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Archiv-Artikel

Hier spricht der Dichter mit vielen Zungen

POESIEFESTIVAL Wie Pier Paolo Pasolini in Mittelhochdeutsch klingt: „Wir han uns geteuschet jm glawben“. In vielen Gesprächen und Inszenierungen bot das Poesiefestival 2010 einen überraschenden Zugang zur Dichtung

Amir Or, ganz Kulturpessimist, konstatierte „eine Vulgarisierung der Sprachkultur nicht nur in Israel, sondern in der gesamten westlichen Welt“

VON ANDREAS RESCH

Dass der überwiegende Teil des diesjährigen Poesiefestival trotz brütender Sommerhitze und einsetzender Fußball-WM so gut besucht war – mehr als 8.000 Zuschauer kamen –, mag zunächst einmal erstaunen. Zumindest wenn man den Blick auf den marginalisierten Stellenwert von Lyrik auf dem Literaturmarkt richtet. Tatsächlich jedoch spiegelt sich darin eine Tendenz wider, die auch im Kontext anderer Kunstgattungen zu beobachten ist: eine zunehmende Entkoppelung von Werken und deren Präsentation.

Beim Poesiefestival funktioniert das so, dass den Besuchern der einzelnen Veranstaltungen fast immer ein Mehrwert versprochen wird – etwa anhand der zahlreichen Uraufführungen, die das Festival speziell in Auftrag gibt. In diesem Jahr waren das unter anderem eine Neuvertextung des Schumann-Liederzyklus „Frauenliebe und -leben“ durch Sabine Scho und Ulf Stolterfoht sowie eine Inszenierung von Inger Christensens Gedicht „Alphabet“. Auch der Reiz von Veranstaltungen wie „Versschmuggel“ oder „e.poesie“ besteht eben darin, dass man das, was man da auf der Bühne sieht, so vermutlich nie wieder erleben wird. Dieser Eventcharakter hebt das Poesiefestival über den Rahmen klassischer Literaturveranstaltungen hinaus.

Streit über neue Wortschöpfungen

Die traditionell gut besuchte „Weltklang“-Lesung war auch in diesem Jahr ausverkauft. Das überrascht weniger als die Tatsache, dass selbst Formate wie das am späten Nachmittag stattfindende „Poesiegespräch“ stets viele Zuhörer fand. Hier sprechen Moderatoren, die oft selbst Autoren sind, mit zwei Dichtern aus einem Land über deren Werk, Poetik und Biografie. Der Erfolg der Reihe spricht auch dafür, solche Gespräche nicht wie üblich zu einem bloßen Appendix einer Lesung zu machen.

Besonders interessant war in diesem Jahr ein Poesiegespräch zwischen den israelischen Dichtern Shimon Adaf und Amir Or über die Rolle des Hebräischen in der israelischen Lyrik. Während Or, ganz Kulturpessimist, „eine Vulgarisierung der Sprachkultur nicht nur in Israel, sondern in der gesamten westlichen Welt“ konstatierte, erkannte Adaf im Gegensatz dazu eine optimistisch stimmende Tendenz, die junge Sprache des Neu-Hebräischen durch zahlreiche Wortneuschöpfungen ständig zu aktualisieren. Die Vermischung von religiöser und säkularer Sprache, die in der Vergangenheit zu einer Vielzahl von „territorial geprägten Begriffen“ geführt habe, gelte es so zu überwinden.

Ein wenig enttäuschend waren die Poesie-Filme, was vor allem damit zusammenhing, dass die Grenzen zwischen filmischen Gedichten und Verfilmungen von Gedichten immer wieder verschwammen, weshalb man verschiedene pseudopoetische Stilübungen zu sehen bekam. Großartig waren allerdings die „Threshold Songs“ von Natalia Almada und Peter Gizzi, ein Poesiefilm, der 2009 im Rahmen des Projekts „Tangiers 8“ entstanden ist: Aus dem Auf- und Abschwellen von fremdartigem Stimmengewirr, Super-8-Bildern von Hochhäusern, vorbeieilenden Passanten und verschleierten Frauen bildet sich nach und nach ein höchst subjektiver Eindruck der Stadt Tangiers heraus.

Pasolinis Übersetzer

Zum Abschluss des Poesiefestivals fand am Samstagabend die Aufführung des Gedichtzyklus „Dunckler Enthusiasmo“ von Pier Paolo Pasolini in einer Inszenierung von Leopold von Verschuer statt, in dessen Vorfeld der Dichter Durs Grünbein mit dem Pasolini-Übersetzer Christian Filips über den italienischen Autor und Filmemacher sprach. Grünbein zitierte Pasolini – „Zerbrochen ist die orphische Eierschale“ – und erzählte von dessen zunehmender Desillusionierung in Bezug auf die erkenntnisstiftende Kraft der Lyrik. Filips berichtete von den Schwierigkeiten bei der Übersetzung der Gedichte, die Pasolini auf Friaulisch verfasst hat – obwohl seine Muttersprache ein bürgerliches Venezianisch gewesen ist – und in denen er den Verlust der Heimat beklagte. Dieser „mehrfach gebrochenen Herkunft“ Pasolinis habe er gerecht werden wollen. In der Aufführung selbst wurden dann auch Textstellen aus der mit mittelhochdeutschen Passagen angereicherten Neuübersetzung von Filips vorgetragen, was sich so anhörte: „Wir han uns geteuschet jm glawben / unmueglich sei der mentschen wandelen“.