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Archiv-Artikel

Romantik-Tenor trifft auf Straßen-Rap

GEFÄNGNISTHEATER In Plötzensee in der Jugendstrafanstalt wird Schuberts „Winterreise“ Stück für Stück flotter gemacht

VON JENS UTHOFF

Die zwölf Gefangenen verbeugen sich mehrfach. Erst erhalten sie Standing Ovations, kurz darauf geben die Rapper Interviews. Der klassische Sänger Jonas Böhm – schwarzes Hemd, schwarze Hose, elegante Schuhe – umarmt einen der jugendlichen Straftäter. Kurz zuvor haben sie gemeinsam auf der Bühne gestanden und gesungen: „Einsam, manchmal fühl ich mich so einsam …“

An diesem Tag erleben die Gefangenen der Jugendstrafanstalt Plötzensee (JSA) in Charlottenburg das genaue Gegenteil dessen, was sie sonst erleben. Das Gegenteil des abgeschotteten, monotonen Knastalltags. Und das liegt ausgerechnet an den Liedern von Franz Schubert, des Komponisten der Romantik. Aus dessen Stück „Der greise Kopf“, Teil des Liederzyklus „Winterreise“, kreierten die jugendlichen Strafgefangenen HipHop-Tracks. Einer der Jungs läuft gestikulierend über die Bühne und rappt: „Wie geht es aus? Komm ich hier raus? / Sind das Bandidos oder Kripos? / Wieso überfiel ich die Spielos? / Ziellos versteck ich die Kilos / Bald lieg ich nur noch auf’m Friedhof.“

So also hört sich Schubert 2013 im Knast an. Birgit Lang, Mitinitiatorin des Projekts, sagt nach der Aufführung: „Allein dass sie schon die ganzen Texte geschrieben haben, ist eine heftige Leistung.“ Sieben Songs haben die Teilnehmer geschrieben – beim bereits siebten Modul des Theaterprojekts „Winterreise“, das Lang und der auch als Kronstädta bekannte Musiker und Workshopdozent Jörn Hedtke gemeinsam mit dem Gefängnistheater AufBruch konzipiert haben.

Einmalige Aufführungen

Seit Mitte 2012 beschäftigen sich Strafgefangene der JSA mit dem Stück. Aufgeteilt in zehn Module, erfährt der „alte, staubige Text“, wie Hedtke ihn nennt, seine Neuinterpretation als Theaterstück, als Videoclip oder HipHop-Track. Ende 2014 wird diese „Winterreise“ abgeschlossen sein. Zur Präsentation der einzelnen Module gibt es jeweils eine einmalige Aufführung im Kultursaal der JSA, am Montag wurden die Versionen von „Der greise Kopf“ vor Eltern, AufBruch-Fans und Presse aufgeführt.

Zu Beginn sieht man auf und vor der Bühne des Kultursaals, wie die Tracks wurden, was sie sind. Sänger Jonas Böhm, Absolvent der Universität der Künste, singt Schuberts Originalversion mit Klavierbegleitung. Lauter Tenorgesang schallt durch den Raum, das r rollt, Böhm trägt das Stück mit allem Pathos der Zeit – es ist von 1827 – vor.

Direkt im Anschluss kommt die Cross-over-Variante: Romantik-Tenor trifft auf Straßen-Rap. Die Gefangenen stehen nebeneinander aufgereiht in gestreiften Hemden und mit Blaumann, ihrer Knastarbeitskleidung. Sie tragen Gesichtsmasken – auch damit sie auf Fotos nicht zu erkennen sind. Abwechselnd treten sie nach vorn und singen ihren Part. Szenenapplaus, wenn Gino, einer von ihnen, die Melodie in klarem, hellem Gesang vorträgt oder wenn sein Kollege Dino so schnell wie die Profis rappt.

Mitgewirkt hat an dem aktuellen Modul auch DJ Craft von der Rap-Combo K.I.Z., der einen Workshop leitete. Nun scratcht und sampelt er zum Sprechgesang der Inhaftierten und generiert Beats am Bühnenrand. Zur Zusammenarbeit sagt DJ Craft: „Ich gebe damit ja auch weiter, dass ich eine Leidenschaft habe – und dass ich damit Erfolg habe.“

Philipp, Kurzhaarschnitt mit abrasierten Seiten, groß und stämmig, war einer der Schüler DJ Crafts. Er sagt nach seinem Auftritt: „Wir haben drei Monate Arbeit da reingesteckt und sind froh, dass es so gut gelaufen ist.“ Fragt man ihn später, warum er hier ist, herrscht nach der Antwort erst mal für einen Moment Stille: „Wegen Totschlags.“

Der 19-Jährige nimmt bereits zum dritten Mal an einem „Winterreise“-Modul teil. Während eines Videoworkshops habe er über die Dozenten einen Praktikumsplatz für die Zeit nach dem Knast bekommen, erzählt er. Und: „Die Projekte sind auch gut für das, was du aufzuarbeiten hast.“ Was Janina Deininger, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der JSA, später bestätigt: „Es geht bei den Projekten um die ständige Auseinandersetzung mit sich selbst.“

Keine Alibiarbeit

Bei den Aufführungen des seit den neunziger Jahren mit Gefangenen arbeitenden Berliner Theaterprojekts AufBruch gewinnt man stets den Eindruck, dass hier nicht bloß sozialpädagogische Alibiarbeit geleistet wird. Es sind künstlerisch ernst zu nehmende Projekte, die mit den Inhaftierten entwickelt werden – weil sie dies sind, bewirken sie etwas bei den Teilnehmern. Wenn es in den Zielvorgaben heißt, dass berufliche Perspektiven entwickelt, Teamfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Durchhaltevermögen gefördert werden, so sind dies mehr als Phrasen. Für die „Winterreise“ hat AufBruch Ende vergangenen Jahres den Integrationspreis des Bezirks Charlottenburg gewonnen. Zu Recht.