Das Ziel: 20 Millionen Wähler

AUS PRAG HEIKE HAARHOFF

Es ist ein lauer Frühsommerabend in Prag. In einer Gastwirtschaft in der Altstadt erzählt der Franzose Franck Biancheri, 45 Jahre, Anekdoten von seinen Zusammentreffen mit Prominenten. Einmal hatte Mitterrand ihn zum Gespräch in den Élysée-Palast gebeten, es ging um seinen Coup, das studentische Austauschprogramm Erasmus. Neulich war es George Soros, der ihn in Paris zum Empfang im kleinen Kreis lud, Thema war die europäische Zivilgesellschaft. Und in ein paar Jahren, „wenn die Newropeans das Europäische Parlament erobert haben“, lacht Franck Biancheri, „werden sich noch ganz andere Leute für uns interessieren.“

Er sagt das nicht prahlerisch, das verhindert der starke Akzent, der sich in sein Englisch mischt, aber doch so, dass die 30 Zuhörer aus West- und Osteuropa spüren: wenn Franck Biancheri etwas zu sagen hat, dann wird ihm zugehört. Wenn er etwas anpackt, dann wäre es vermessen, seine Ideen als Utopie oder Größenwahn abzutun. Würden sich sonst die Mächtigen dieser Welt mit ihm abgeben?

Franck Biancheri. Enkel italienischer Einwanderer, Absolvent der Pariser Elite-Universität Sciences Po. Erfinder des Erasmus-Programms, Direktor des europäischen Think Tanks „Europe 2020“, Leitartikler der Online-Zeitung Newropeans Magazine. Südfranzose, Schnauzbart, Charisma. Und jetzt: Gründer der „Newropeans“, einer transeuropäischen Partei, der ersten ihrer Art überhaupt. Zur Europawahl 2009 will Newropeans unter dem gleichen Namen und mit dem gleichen Programm in allen EU-Ländern antreten.

So etwas hat es in der Geschichte der EU noch nicht gegeben. Bislang stellten Parteien nationale Listen mit nationalen Kandidaten auf. So will es das europäische Wahlrecht, Doppelkandidaturen sind unzulässig. Newropeans, die eigentlich eine EU-weit einheitliche Liste anstreben, behelfen sich mit einem Kniff: Sie verteilen die Kandidaten ihrer transeuropäischen Liste als Spitzenkandidaten auf die einzelnen EU-Länder.

Herkömmliche Parteien schließen sich erst im Europäischen Parlament zu Länder übergreifenden Fraktionen zusammen, entsprechend ihrer politischen Gesinnung, geleitet von ihren nationalen Anliegen. Die daraus resultierenden Interessenkonflikte wollen Newropeans vermeiden. Aus nationaler Politik halten sie sich heraus, zur Wahl stellen wollen sie sich einzig zu den Europawahlen. Ihr Ziel: die Demokratisierung der EU und ihrer Institutionen, mehr Bürgernähe, mehr Transparenz.

Wo sind die Visionen?

Das Scheitern der EU-Verfassung, die Sabotage des Stabilitätspakts, Erweiterungspläne ohne Ziel und minimale Wahlbeteiligung werten die Newropeans als Ausdruck der politischen Visions- und Führungslosigkeit, in die die EU geraten ist. Als Ausweg fordern sie vor allem eine demokratisch gewählte EU-Regierung. „Wer über 500 Millionen Menschen regieren will, muss dazu legitimiert sein“, findet Franck Biancheri. Diese Regierung soll vom Europäischen Parlament und von nationalen Vertretern bestimmt werden; die Kommission soll sich zur reinen Verwaltungseinheit zurückentwickeln. Ob der Rat, das Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten, auch abgeschafft werden soll, debattieren die Newropeans noch. „Wir sind eine Transitionspartei“, sagt Biancheri. „In 20 Jahren, wenn die Demokratisierung abgeschlossen ist, verschwinden wir von der Bildfläche.“

150 Mitglieder hat Newropeans derzeit, europaweit. 1.000 sollen es bis Jahresende sein, 10.000 bis Juni 2007. Bei der Europawahl 2009 rechnet Newropeans mit fünf bis zehn Prozent der Stimmen, das wären zehn bis zwanzig Millionen Wähler – ein Rekord für eine einzelne Partei. Keiner der in der Gastwirtschaft versammelten Europäer – Tschechen, Holländer, Italiener, Deutsche, Franzosen, Spanier – belächelt diese Prognose, kaum einer hält sie für überzogen. Die Menschen, viele in Biancheris Alter, manche jünger, alle mit Abitur, die meisten mit Hochschulstudium, zwei- oder mehrsprachig und mit beiden Beinen im Leben stehend, gehören zum harten Kern von Newropeans. Viele kennen Biancheri noch aus Studentenzeiten. Sie wissen, was sich mit ihm erreichen lässt. „Biancheri“, sagt einer, „das ist ein Ideen-Katalysator.“

1985, da ist er 24 Jahre alt, gründet er die erste transeuropäische Studentenorganisation AEGEE (Association des Etats Généraux des Etudiants de l’Europe). Nach drei Jahren unter seiner Führung hat AEGEE 12.000 Mitglieder und den Traum vom Studieren im Ausland auch für Durchschnittsstudenten verwirklicht: Der Rat der Europäischen Gemeinschaften beschließt das Austauschprogramm Erasmus. Eine Million Studenten in Europa haben seither davon profitiert. Mitterrand, der Machtmensch, umgarnt Biancheri, vergeblich. Die politische Unabhängigkeit ist ihm wichtiger als die Nähe des französischen Präsidenten.

Jetzt aber will Franck Biancheri doch Parteipolitik machen, deswegen sitzt er hier in Prag, raucht, doziert, ordert Weißwein. Es ist dies eines der seltenen Vor-Ort-Arbeitstreffen der Newropeans, deren Mitglieder – angesichts der extremen Entfernungen – gewöhnlich übers Internet miteinander kommunizieren und ihre Positionen, von Ehrenamtlichen in die unterschiedlichen EU-Sprachen übersetzt, auf dem elektronischen Weg abstimmen. Seit etwa einem Jahr geht das so, seit der Gründung von Newropeans. Damals hatten Franzosen und Holländer in Referenden die EU-Verfassung scheitern lassen. Biancheri, der eine Verfassung zwar für nötig hält, aber Verständnis für den Unmut und die Ablehnung hatte, dachte: „Nur Nein zu sagen ist kindisch. Wir müssen schon sagen, was wir stattdessen wollen, ansonsten übernehmen irgendwann Extremisten das Ruder in der EU.“ Er wiederholt diese Sätze in Prag, abends in der Kneipe und am nächsten Tag in einem Kongresszentrum, wo die Newropeans ihr Treffen in konzentrierter Seminaratmosphäre fortsetzen. „Wir“, sagt er, „bewegen uns in der EU wie Fische in einem Aquarium: Die Fische fragen sich nicht, ob sie für oder gegen das Wasser sind. Sondern sie sehen zu, wie sie darin am besten leben.“

Rhetorisch klingt das schon ganz gut, wenn auch mehr wie eine Notwendigkeit denn eine politische Herzensangelegenheit. Pragmatismus pur, und das bereits in der Gründungsphase einer Partei? Die Mitglieder irritiert das wenig. „Der Stil hier ist schon anders, die Organisation ist sehr straight“, sagt Sascha Zumbusch, ein 45-jähriger Musikverleger und IT-Consultant aus Brandenburg, der früher mal in der SPD war und dort feststellte: „Ideologiebehaftete Grundsatzdiskussionen hängen mir zum Hals raus.“ Als er in einem Zeitungsartikel über Franck Biancheri las, fiel seine Entscheidung für Newropeans. „Meine Frau ist Ärztin, wir haben drei Kinder, Arbeitszeitregelungen sind ein großes Thema bei uns zu Hause.“

Die Niederländerin Véronique Swinkels, 42 Jahre, Leiterin einer Werbeagentur mit 15 Angestellten in Amsterdam und Mutter von vier Kindern, stimmt ihm zu: „Man hat das Gefühl, dass diese EU für alles da ist außer für ihre Bürger.“ Sie jedenfalls verbinde mit Brüssel im Moment vor allem Negatives, beispielsweise die Stapel von Formularen, die sie ausfüllen muss, bevor ihre Firma an einer europäischen Ausschreibung teilnehmen darf. „Stattdessen“, sagt sie, „fände ich es sinnvoller, wir würden uns Gedanken machen, welches Europa wir unseren Kindern hinterlassen wollen.“

So wie Zumbusch und Swinkels geht es vielen. Sie sind politisch denkende Menschen, die sich schwer einordnen lassen in ein Rechts-links-Schema. Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass sie kaum demokratisches Mitbestimmungsrecht haben, obwohl die Gesetze der EU zunehmend ihren Alltag bestimmen. Die Demokratisierung der EU ist ihnen ein Anliegen, manchen wegen des empirischen Befundes, dass komplexe Gesellschaften auf lange Sicht anders nicht zu führen sind, anderen aufgrund eigener Betroffenheit.

„Ich habe lange unter einem paternalistischen System gelebt, das mir stets sagte, was gut und was schlecht für mich sei“, sagt der Tscheche Zdeněk Záliš, 52, Inhaber einer Softwarefirma in Prag. Früher, da war er noch Kommunist und im Außenministerium beschäftigt, habe er geglaubt, das System von innen verändern zu können. „Jetzt versuche ich es von außen.“

Zdeněk Záliš ist keine Ausnahme. Sie alle hier wollen sich engagieren, sie haben das intellektuelle Potenzial dazu, Gehör zu finden, ihre bisherigen Erfahrungen mit Parteien jedoch sind unbefriedigend. „Anderswo müsste ich mich über jahrelange Arbeit auf kommunaler Ebene heraufarbeiten“, klagt der Soziologiestudent Mirko Herzner, 26, aus Chemnitz, „bei Newropeans kann man mehr und schneller etwas bewirken.“

Abstimmung per Internet

Es gibt ja auch genug zu tun. Die Internetseite muss überarbeitet werden, das Intranet ist im Aufbau, ein Mitgliedermanagementsystem muss her, ebenso ein elektronisches Abstimmungsverfahren, das internen wie externen Missbrauch ausschließt. Mitglieder müssen geworben werden, zunächst gezielt über Mund-zu-Mund-Propaganda, später über Öffentlichkeitsarbeit, Debatten, Veranstaltungen in ganz Europa. Deren Finanzierung freilich ist derzeit noch unklar. „In unserer jetzigen Phase möchten wir Abhängigkeiten durch Spenden vermeiden“, sagt Franck Biancheri. Und irgendwann wollen die Newropeans dann auch noch inhaltliche Positionen entwickeln, beispielsweise zur europäischen Sicherheits-, Justiz- oder Außenpolitik.

Dass es zu schaffen ist, davon ist José Maria Compagni Morales, genannt Pepe, überzeugt. Der 41-jährige Spanier, Verkaufsmanager einer mittelständischen Konstruktionsfirma für Aufzüge aus Sevilla, hatte schon einmal mit seinem Freund Biancheri versucht, eine europäische Partei zu gründen, 1989 war das. Wenn man ihn heute davon erzählen lässt, wie er, der damalige Spitzenkandidat für Spanien, per Anhalter durch Westeuropa tourte – Geld war schon damals knapp –, wenn man dabei seine Augen leuchten und seine Stimme hüpfen hört, dann kann man sich vorstellen, dass Pepe Morales einen herausragenden Wahlkampf für die Newropeans führen wird. Unabhängig von den Aussichten.

„1989“, sagt Morales, „war die Zeit noch nicht reif für uns.“ Das Internet ermöglichte noch keine unmittelbare Kommunikation zwischen den Mitgliedern in den verschiedenen Ländern, zudem waren viele der Mitstreiter zugleich mit ihrem Berufseinstieg und ihrer Familiengründung beschäftigt. Und schließlich sei der Leidensdruck vieler Europäer damals vergleichsweise gering gewesen. Heute aber sei die Unzufriedenheit so groß, dass etwas passieren müsse. Morales glaubt an sein Gespür für Zeiten des Umbruchs: „Ich war zehn, als Franco starb. Ich weiß, wie es ist, in einem System zu leben, das sich von einem autoritären zu einem demokratischen wandeln will.“ Er wartet, bis er sicher ist, dass man ihm zuhört: „Es ist schwer, aber es lohnt sich.“