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Archiv-Artikel

Mit Visum in die Vergangenheit

VON SUSANNE GANNOTT

Als der Zug wieder anfährt, sind sie in heller Aufregung. „Wenn Roma auf Reisen sind, gibt es immer Ärger!“, schimpft Kasida. Alle reden durcheinander. Keiner hat genau mitbekommen, was gerade – es ist vier Uhr morgens – passiert ist. Fest steht nur: Dragan ist am Bahnhof des Grenzorts Rzepin zurückgeblieben. Und mit ihm die anderen aus der Reisegruppe, die ihn begleitet haben, damit er nicht allein mit den polnischen Polizisten mitgehen muss. Warum die Polen Dragan nicht einreisen lassen, versteht niemand. Er hat das gleiche Reisedokument wie die anderen Roma der Gruppe: einen temporären Pass, ausgestellt von der Kölner Ausländerbehörde, mit einem Polen-Visum für exakt eine Woche. Sogar der Zweck der Reise ist vermerkt: „Bildungsreise nach Auschwitz“.

Die Polenfahrt ist der Höhepunkt eines außergewöhnlichen Projekts. Seit Monaten sind 20 Kölner – Deutsche, Roma und Türken im Alter zwischen 20 und 50 Jahren – in ihrer Stadt unterwegs: auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte von Deutschen, Sinti und Roma. Sie haben im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Kölner Familiengeschichten recherchiert, haben Stolpersteine für ermordete Roma gesucht und Passanten befragt, was sie von Roma halten. Sie sind zur Gedenktafel für das „Zigeunerlager“ in Bickendorf gegangen und zum Bahnhof in Deutz, von dem aus ab Mai 1940 mehr als 4.500 Sinti und Roma in die Arbeits- und Konzentrationslager nach Polen deportiert wurden. Und jetzt sollte die letzte Station der „Spurensuche“ an polnischen Grenzbeamten scheitern?

20 Jahre in Deutschland

Während der Zug durch die neblig-graue Landschaft Richtung Warschau rast, beraten sie, was zu tun ist. Der 44-jährige Jordan, wie immer in schwarzem Anzug und weißem Hemd, verteilt „jugoslawischen“ Kaffee: schwarz, stark und süß. Seine Frau Carolina schlägt wieder und wieder die Hände zusammen, die schwarzen Zöpfchen ihrer Frisur hüpfen hin und her. „Was wenn Dragan zurückschicken?“ spricht sie in ihrem gebrochenen Deutsch aus, was hier wohl alle denken.

Ohnehin ist es für die Roma wie ein Wunder, dass sie diese Reise antreten konnten. Wochenlang hat Iris, die Sozialberaterin des Kölner Rom e.V., mit der Ausländerbehörde verhandelt, um die Papiere zu bekommen; schließlich dürfen sich in Deutschland geduldete Flüchtlinge nicht einfach frei bewegen – nicht einmal wenn sie, wie die Roma vom „Projekt Spurensuche“, mehr als zehn, teilweise zwanzig Jahre in Deutschland leben. Auch die Tatsache, dass das Projekt von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ finanziert wird und damit den Segen der Bundesregierung hat, schien die Kölner Behörden zunächst nicht sonderlich zu beeindrucken. Aber dann hat Iris es doch geschafft: Dragan, Kasida und ihr Mann Medo, Sladjan und sein Bruder Lolo, ihr Onkel Jordan und seine Frau Carolina dürfen mit nach Polen.

Kurz vor Poznań kommt per Handy die erlösende Nachricht: Dragan ist frei. In der Halle des Warschauer Hauptbahnhofs treffen sie sich einige Stunden später wieder. Die Spurensuche kann beginnen.

Erste Station ist Krakau: eine Führung durch das jüdische Ghetto. Lolo, mit 22 Jahren der jüngste der Reisegruppe, ärgert sich, dass die Stadtführerin nichts über die Roma in Krakau weiß. Wie viele hier leben, will er wissen. Wie sie leben. Ob sie Sozialhilfe bekommen vom polnischen Staat. Warum nicht, fragt die Stadtführerin zurück. Auch die Leute vom Krakauer Roma-Verein, die sie am nächsten Tag treffen, verstehen die Frage nicht. Und was ist mit Abschiebungen, wollen die Kölner Roma wissen. Wieder Unverständnis. Wohin abschieben? Die Roma sind doch Polen. Zwar oft arm und arbeitslos, aber sie sind eben Polen, Staatsbürger.

Dann Auschwitz. Als sie das Tor mit dem Motto „Arbeit macht frei“ durchschreiten, beginnt es zu regnen. Nässe und plötzliche Kälte passen zu dem beklemmenden Bild: der meterhohe Zaun mit Stacheldraht, die hölzernen Wachtürme entlang der Lagerstraße, rechts und links die ehemaligen Kasernenhäuser aus rotem Backstein. Der erste Weg führt in Block 13, zur Ausstellung über die Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma.

Dann passiert das, womit keiner wirklich gerechnet hat: Die Roma finden Spuren ihrer Familien. Auf einem Dokument über eine Massenerschießung vom 11. Dezember 1941 in Leskovac/Serbien findet Medo unter den Namen der Opfer den Urgroßvater seiner Frau Kasida, Paša Asanovic. Auf derselben Liste entdeckt Jordan auch zwei Männer namens Selimovic. Sein Neffe Lolo kann es nicht fassen. Zwar sagen die Vornamen weder ihm, noch seinem Bruder Sladjan, noch seinem Onkel etwas. Doch für Lolo steht fest: „Das ist unsere Familie. Alle mit Namen Selimovic gehören zu unserer Familie.“

Und noch ein bekannter Name findet sich unter den in Leskovac Ermordeten: Idic. Das ist Semras Familienname. Semra ist 17 und lebt in Düsseldorf. Sie gehört auch zur Projektgruppe, aber weil ihre Familie kurz vor der Abschiebung steht – der Vater wurde bereits im Dezember nach Serbien abgeschoben –, hat sie es nicht gewagt, mitzufahren. Aus Angst, dass Mutter und Geschwister weg sind, wenn sie aus Auschwitz zurückkommt. In einer anderen Ecke des Raumes bittet Carolina, die kaum lesen kann, um Hilfe. In einer unendlich anmutenden Reihe sind hier die meisten der mehr als 21.000 Sinti und Roma aufgelistet, die in Auschwitz ermordet wurden. Wieder werden sie fündig: Gleich vier „Carolina Stoika“ gibt es, zwischen einem guten Dutzend anderer Menschen dieses Nachnamens. Auch Carolina ist überzeugt, dass das ihre Leute sind, dass eine der Carolinas ihre Großmutter ist, nach der sie benannt wurde. Sie ist aufgeregt, möchte sofort mit ihrer Mutter in Rumänien telefonieren, sie fragen, was sie weiß von damals. Jordan fotografiert alle Spuren, notiert die Namen.

Am Abend in der Bibliothek der Unterkunft in Ozwięcim bringt es Sladjan auf den Punkt: „Das war ein Schock. Ich habe nie gedacht, dass wir unsere Familie hier finden.“ Auch Kasida ist fassungslos. Ihre Mutter habe früher oft vom Urgroßvater erzählt. „Er war ein großer, starker Mann, sagte sie immer“, und dass ihn die Nazis umgebracht hätten. „Und wir haben bloß gesagt: „Hör doch auf mit deinem Paša!“

„Das ist unsere Familie!“

Aber heute im Stammlager hat sie die Vergangenheit eingeholt: in den Bergen von Koffern, Schuhen, Brillen, Haaren, in den Babyschuhen, dem Kinderkleid. „An dem Kleid war noch Blut“, glaubt Sladjan. In den Details ist das Grauen lebendig geworden, etwa in dem Foto einer alten Frau im Schnee, die Hände gefaltet, „als ob sie um Gnade bittet oder betet, aber dann wird sie doch erschossen“, sagt Lolo. „Sie haben unschuldige Kinder getötet. Was sind das für Menschen gewesen?“ fragt der 26-jährige Sladjan. „Wer hat das getan?“ will Jordan wissen und notiert sich die Namen von Lagerkommandant Rudolf Höß und anderen. „Wir müssen das alles hier filmen und aufschreiben“, hat sein Neffe Lolo schon am Nachmittag im Stammlager gesagt – als wären sie die ersten Besucher in Auschwitz. Ihm, der seit elf Jahren in einem Kölner Flüchtlingsheim wohnt und ganze drei Monate seines Lebens zur Schule gegangen ist, muss es wohl so vorkommen. „Ich habe nichts vom Holocaust gewusst“, sagt er.

Natürlich ist der Holocaust ist seit Monaten Thema des Projekts. Andererseits: Wo haben Flüchtlinge in Deutschland die Möglichkeit, ihr Recht auf Bildung wahrzunehmen? Erst seit einem Jahr gibt es in NRW Schulpflicht für Flüchtlingskinder. Für Lolo kam das zu spät. Er hat seine Schulzeit im Wohnheim und auf der Straße verbracht.

Kasida sagt, für sie sei das Schlimmste gewesen, dass die Museumsführerin immer von „Häftlingen“ geredet habe. „Ich musste immer denken: Häftlinge, das sind wir.“ Damals seien ihre Vorfahren im KZ zu Nummern geworden, „wir sind heute auch nur Nummern“. Damals seien sie mit dem Zug deportiert wurden, heute würden sie mit dem Flugzeug weggebracht. „Das ist dasselbe!“ Darf man das sagen? Später, zurück in Köln, wird die Gruppe noch öfter diskutieren, ob der Holocaust auch für Roma unvergleichbar ist.

Das „Zigeunerlager“

Am nächsten Tag in Birkenau bricht die Sonne durch. Die Konturen der roten Schornsteine, die aus den Ruinen der ehemaligen Wohnbaracken ragen, setzen sich scharf von dem grau-blauen Himmel ab. Der Weg ins „Zigeunerlager“ entlang der grasumwachsenen Steinhaufen scheint endlos. An der Gedenkstätte für die Sinti und Roma wollen sie eine Zeremonie abhalten. Kasida und Carolina haben für jeden eine Rose gekauft. Und ein Blumengesteck mit Widmung: „Roma Jugoslavia“. Kasida hält eine kurze Rede: „Es tut sehr weh, dass ihr so gestorben seid“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Dragan ergänzt: „Fünf Jahre habt ihr hier gelebt, gelitten. Das waren unsere Familien, unsere Bekannten.“ Auch ihm versagt die Stimme.

Die Museumsführerin erzählt in knappen Worten vom Ende des „Zigeunerlagers“: Weil der erste Versuch, es aufzulösen, am Widerstand der Sinti und Roma gescheitert sei, habe die SS im Sommer 1944 die kräftigen Männer unter einem Vorwand weggebracht. In der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 seien die Zurückgebliebenen, rund 3.000 Menschen, in Krematorium V ermordet worden. „Wir gehen jetzt ihren letzten Gang“, beschließt sie.

Am Krematorium angekommen, setzen sich die Roma auf die Mauerreste der ehemaligen großen Gaskammer. Die Raucher zünden Zigaretten an. Dass das Rauchen in der Gedenkstätte verboten ist, ficht sie nicht an. Kasida erklärt: „Das ist bei uns Sitte.“ Roma müssten auf Beerdigungen rauchen, Nichtraucher zündeten mindestens eine Kerze an. „Damit die Toten noch etwas von uns bekommen in der anderen Welt.“ Dann wird ein Foto gemacht: die Roma in der Ruine der Gaskammer mit ihren provisorischen Reisepässen in der Hand – kleines Mitbringsel für die Leiterin des Kölner Ausländeramts.

„Wenn ich gewusst hätte, was ich hier sehe, wäre ich nicht mitgekommen“, sagt Lolo am letzten Abend. Aber dann kann er der ersten richtigen Reise seines Lebens doch etwas Gutes abgewinnen. „Wir können jetzt den anderen Roma davon erzählen.“

Als sie sich auf der Rückfahrt der Grenze nähern, sind alle hellwach. Die polnischen und die deutschen Grenzer beäugen die Papiere zwar misstrauisch und geben jede einzelne Passnummer per Walkytalky weiter. Doch dann lassen sie alle passieren.

Am nächsten Tag müssen die Roma in Köln ihre Dokumente wieder abgeben. „Das fällt mir sehr schwer“, sagt Kasida. „Ohne Pass ist man doch kein Mensch.“