: Die größte Dämonkratie der Welt
HINDU-ELITEN Muslime sind in Indien Staatsfeind Nr. 1 und das Land ist auf dem Weg in den Bürgerkrieg, behauptet die Globalisierungs- kritikerin Arundhati Roy in ihrem neuen Buch „Aus der Werkstatt der Demokratie“
VON THOMAS HUMMITZSCH
In Indien herrscht Krieg. Die hinduistische Bevölkerungsmehrheit verfolgt systematisch die gesellschaftlichen Minoritäten, allen voran die Muslime, und beraubt sie ihrer Bürgerrechte. Genährt wird dieser Konflikt von der Dauerfehde mit Pakistan um die Kaschmirregion und den extremen sozialen Unterschieden in der indischen Gesellschaft, dem globalen wirtschaftlichen Druck und dem internationalen Antiterrorkampf. In diesem Rahmen ist eine nationalistische Identität entstanden, die sich nicht mehr auf Indiens kulturelle Vielfalt, sondern auf die religiöse Kultur des Hinduismus beruft. Die Hindunationalisten haben den bevölkerungsreichsten, demokratisch verfassten Staat der Erde inzwischen fest in ihrer Hand. Die Muslime sind längst Staatsfeind Nr. 1.
Das Ausmaß der Entmenschlichung der Muslime hat die indische Aktivistin und Globalisierungskritikerin Arundhati Roy in ihrer aktuellen Essaysammlung „Aus der Werkstatt der Demokratie“ vermessen. Darin führt sie zahlreiche Beispiele dafür an, wie radikale Hindunationalisten das politische System gekapert und der indischen Gesellschaft „faschistische“ Vorstellungen eingeimpft hätten. Roys Texte sind deshalb „Feldstudien“ aus einer scheiternden Demokratie, wie es das englische Original ankündigt. Der deutsche Titel führt hingegen in die Irre, denn das moderne Indien ist nicht die Werkstatt der Demokratie, sondern gehört in eine solche.
Hinduistische Verschwörung
Arundhati Roy präsentiert zahlreiche Belege des Scheiterns der größten Demokratie der Welt. So zogen im Frühjahr 2002 nationalistische Schlägertrupps durch die Städte des indischen Bundesstaates Gujarat und verübten ein Pogrom an der muslimischen Bevölkerung. Mindestens zweitausend Muslime wurden bei den Übergriffen umgebracht, tausende Frauen vergewaltigt, zehntausende Familien vertrieben.
Laut Roy haben staatliche Behörden die Ausschreitungen zumindest toleriert, wenn nicht sogar aktiv unterstützt. Es könne kein Zufall gewesen sein, dass sich computergenerierte staatliche Listen im Besitz der Täter befanden, mit deren Hilfe sie systematisch muslimische Geschäfte und Wohnhäuser aufsuchen und in Brand setzen konnten. Die Sicherheitskräfte schauten tatenlos zu. Verdächtig aktiv werden die Sicherheitsbehörden hingegen stets bei vermeintlichen Terroranschlägen und angeblicher muslimischer Gewalt. Ermittlungen führen oft zu seltsamen Ergebnissen, die in dubiosen Anklagen und Prozessen enden.
Roy weist dies gleich in mehreren Texten zum Anschlag auf das indische Parlament im Dezember 2001 nach. Dabei ist es zu merkwürdigen Absprachen und massiven Verfahrensfehlern gekommen. Noch Jahre später wurden die tatsächlich gefälschten Beweise wieder medial verwendet, um die antimuslimische Stimmung anzuheizen. Die Ausführungen erwecken insgesamt den Eindruck, als sei die Verfolgung der Muslime inzwischen Staatsräson, einhellig befolgt von Politik, Justiz und Medien. Arundhati Roy hat von dieser nationalhinduistischen Verschwörung genug, sie hegt eine tiefe Abneigung gegen die indischen Eliten. Im Jahr 2006 lehnte sie daher den höchsten Literaturpreis Indiens, den Sahitya Akademi Award, ab. Mit ihrem bisher einzigen Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ erlangte sie 1997 weltweit Berühmtheit, als sie dafür den britischen Booker-Literaturpreis erhielt. Ihr politisches Engagement gegen Gewalt wurde 2004 mit dem Sydney Peace Prize ausgezeichnet.
Atmosphäre des Misstrauens
Ihre zwischen 2002 und 2008 entstandenen Texte geben eine zeitgemäße Auskunft über die Entwicklung der indischen Demokratie unter den Vorzeichen der weltweiten Islamfeindlichkeit und der Globalisierung. Damit verändert sie unseren Blick auf Indien. Man kann ihr vorwerfen, dabei ein einseitig friedfertiges Bild der Muslime in Indien zu präsentieren.
Dies ändert aber nichts daran, dass Indiens Muslime in den vergangenen Jahren pauschal zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden sind. Anscheinend für vogelfrei erklärt, sind sie selbst den gewalttätigsten Übergriffen fast schutzlos ausgeliefert, werden in Polizeigewahrsam misshandelt und vor indischen Gerichten in skandalösen Verfahren zu langen Haft- oder gar Todesstrafen verurteilt. Indische Politiker und Medien unterstützen das fast täglich mit islamfeindlichen Kommentaren.
So ist eine Atmosphäre des Misstrauens entstanden, die das ganze Land infiziert hat. Dieses gesellschaftliche Klima hält Roy für den unheilvollen Vorboten eines drohenden Massenmords an der muslimischen Bevölkerung Indiens. „Ja. Es liegt Völkermord in der Luft.“ Denn in einer Ära, „in der mit Gewalt gerafft wird“, in der „die Demokratie und die freie Marktwirtschaft zu einem einzigen Raubtier verschmolzen sind“, braucht es ihrer Meinung nach einen kollektiven Feind, dem man die folgenden sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten zuschreiben kann. Dies kann man als linksradikale Panikmache auffassen. Oder aber als Warnung, die ein Handeln noch zulässt.
■ Arundhati Roy: „Aus der Werkstatt der Demokratie.“ Aus dem Englischen von Anette Grube. S. Fischer, Frankfurt/M. 2010, 336 S. 19,95 Euro