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Archiv-Artikel

Kompagnon mit Kamera

Weg vom alteingesessenen Autorenkino: Beim Filmfestival in Locarno waren vor allem die Beiträge spannend, die sich in die Köpfe ihrer Helden begaben und aus der Innensicht ihre Bilder entwickelten

VON ANKE LEWEKE

Es ist immer wieder der schönste Anblick in Locarno: Das bunte Touristentrüppchen, das zur Mittagszeit vom Berg oder aus dem See gestiegen kommt, um sich in die lange Schlange vor dem Festivalkino Fevi einzureihen. Sie alle kommen, ohne dass sie Glamour, Blitzlicht oder einen roten Teppich brauchen.

Leider nur hatten sich in diesem Festivaljahrgang im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden zu viele Filme breitgemacht, die auf Versatzstücke und durchscheinende Drehbuchkonstrukte zurückgriffen. Braucht man wirklich diese in Blau getauchten Bilder aus Roberta Torres’ erotisch aufgeladenem Psychothriller „Mare Nero“, die ein junge Frau zeigen, wie sie aus der Badewanne steigt und sich dekorativ abtrocknet? Auch durch ein allzu durchstilisiertes Tristesse-Setting kann eine Heldin zur reinen Kunstfigur werden.

Im deutschen Wettbewerbsbeitrag „Gefangene“ von Iain Dilthey scheint die Protagonistin vor allem in ihre auf Fünfzigerjahre-Mief getrimmte Wohnungseinrichtung eingeschlossen zu sein. Nur wenn sich die Bilder nicht vor die Geschichten stellten, wenn sie den Kunstwillen wegließen, passierte wirklich etwas auf der Leinwand. So setzen sich die Protagonisten aus Ryan Flecks „Half Nelson“ (Spezialpreis der Jury) prompt gegen den American-Independent-Look mit zackiger Handkamera durch und führen den Zuschauer in den Alltag von Brooklyn.

Dan ist Lehrer für Geschichte und versucht, seinen afroamerikanischen Schülern ein Bewusstsein für die eigene von Unterdrückung und Repression geprägte Geschichte zu geben. Die introvertierte Drew ist eine seiner Schülerinnen. Weil Fleck eben nicht auf die Stereotypen des Ghettofilms zurückgreift, eröffnet er ungeahnte Einblicke in das Leben des New Yorker Stadtteils. Crack nimmt in diesem Film nämlich nur der weiße Lehrer Dan. Als er dabei eines Tages von Drew auf der Schultoilette erwischt wird, verpfeift sie ihn nicht. Vielmehr freunden sich die beiden an. Seine unaufdringliche Authentizität bekommt dieser Film dadurch, dass hier zwei Menschen ganz allmählich beginnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Auch im Schweizer Wettbewerbsbeitrag „Das Fräulein“ spürt der Zuschauer von Anfang an die tiefe Sympathie der jungen Regisseurin Andrea Staka für ihre drei Heldinnen. Die mürrische Ruza kommt aus Belgrad und leitet mit strenger Hand seit dreißig Jahren eine Kantine in Zürich. Während Ruza mit ihrer Herkunft gebrochen hat, träumt ihre langjährige Angestellte Mila davon, wieder nach Kroatien in ein eigenes Haus zurückzukehren. Eines Tages tritt die lebenshungrige Ana, die den Krieg in Sarajevo miterlebt hat, in das Leben der beiden Frauen. Die liebenswerte Jüngere wird zum Spiegelbild für Ruza und Mila, die auch einmal voller Hoffnung in die Fremde aufgebrochen sind. Es ist diese Rückbesinnung, die ihre Biografien aus den eingerichteten Bahnen holt und die alten Träume wieder zum Vorschein bringt.

„Das Fräulein“, das mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, gehörte zu den wenigen Filmen in Locarno, die versuchten, sich in die Köpfe ihrer Helden zu begeben und aus dieser Innensicht ihre Bilder zu entwickeln. Staka gelingen Szenen, die Gefühlszustände genau wiedergeben. Etwa wenn man Ana in der Disco in sich versunken tanzen sieht oder wenn sie mit Ruza einen Ausflug in die Berge macht. Plötzlich nimmt die etwa fünfzigjährige Frau die Schweiz nicht mehr nur als Geldquelle, sondern auch als Land mit Aussicht wahr.

Wenn Regisseure die Welt konsequent aus der Perspektive ihrer Figuren wahrnehmen, dann können natürlich auch sperrige Einstellungen entstehen. Zumal wenn es sich um Personen handelt, die längst den Kontakt zum Außen verloren haben. In Hugo Viera da Silvas Film „Body Rice“ begegnet man furchtbar einsamen Gestalten. Der junge Filmemacher begleitet eine Handvoll straffälliger deutscher Jugendlicher, die im Rahmen eines Wiedereingliederungs- und Methadonprogramms nach Portugal geschickt werden. Ihre Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, bestimmt den Rhythmus der Szenen. Natürlich geraten manche Einstellungen quälend lang, aber eben weil es auch um quälende Gefühle geht. Jeder für sich tanzen die Jugendlichen zu dröhnender Musik, allein streifen sie durch die wüstenartige Landschaft des Alentejo. Oder sie liegen einfach herum und rauchen eine Zigarette.

Es sind solche Versuche, die man in Locarno sehen möchte. Filme, denen man anmerkt, dass sie ein Anliegen haben, ihre Bilder von innen heraus motivieren und dabei nicht nach Styling schielen. Vielleicht sollte sich das Filmfest von Locarno wie in seinen Anfangsjahren auf die Rolle des Talentscouts besinnen, den Film selbst zum Star machen und das Gerangel um alteingesessene Regieautoren den Mega-Events von Cannes und Venedig überlassen. Vielleicht sollte Locarno wieder in eine Richtung zielen, den Internationalen Wettbewerb und den Wettbewerb CineastInnen der Gegenwart zur Experimentierstube zusammenlegen, den Premierenfirlefanz lassen und mit seinem Publikum wieder gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen.