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Archiv-Artikel

Das Tier in uns

WILD Was hat das Treiben der Affen mit dem Menschen zu tun? Wie die es machen, machen es auch wir. Wirklich? Ein Zoobesuch mit der Primatologin Marianne Christel

„Darwins Ansicht war das Dogma“, sagt Christel. „Das haben die amerikanischen Primatologinnen allerdings ins Bröseln gebracht“

VON HEIDE OESTREICH (TEXT) UND SONJA TRABANDT (FOTOS)

Die Rotgesichtmakaken sind kleine plüschige graubraune Affen mit tatsächlich sehr roten Gesichtern, die heute auf ihrem Felsen sitzen und ziemlich lustlos gucken. Das ist schade, denn wir sind in den Berliner Zoo gegangen, weil wir uns über die Biologie der Lust unterhalten wollten, die Biologin Marianne Christel und ich. Die Lust, um die es uns geht, ist für die Affen im Moment kein Thema, so viel ist klar. „Sie warten aufs Essen,“ mutmaßt die Biologin. Marianne I. Christel, Doktorin der Biopsychologie an der Humboldt-Uni in Berlin, zieht den schwarzen Anorak um sich, die blasse Sonne wärmt den Februarnachmittag noch nicht. Christel kennt die Affen hier schon lange, sie hat ihre Doktorarbeit über sie geschrieben, über das Greifverhalten der Zwergschimpansen, hat unzählige Studierende herumgeführt. Das war in den Neunzigern. „Sie sind alt geworden“, bemerkt Christel.

Sie war lange nicht mehr im Zoo. Aber damals, in den Neunzigern, als die ersten feministischen Biologinnen anfingen, Darwin in Frage zu stellen, war sie mit dabei. „Welches Geschlecht hat das Gehirn?“ lautete einer ihrer Vorträge. Ein Buchbeitrag beschäftigte sich mit dem „weiblichen Tier“: „Soziobiologische Konzepte weiblicher Verhaltensweisen.“

Kann man von Affen etwas über die menschliche Lust lernen, das soll Christel hier im Angesicht der Affen erzählen. Ausgehen muss man wohl von Charles Darwin, dem Übervater der Biologie. Sein Konzept von tierischem Sex ist simpel: Beide, Männchen und Weibchen, sind programmiert auf das Erhalten der Art. Männchen wollen möglichst viele Nachkommen und sind deshalb promisk. Sie leben gern in einem Harem. Im darwinistischen Begriff der „female choice“ wählt das Weibchen das jeweils stärkste und attraktivste Männchen aus, um seine kostbaren Eier befruchten zu lassen. Lust spielt keine Rolle. Übertragen auf den Menschen wirkt das ziemlich traurig. Promiske Männer und kinderfixierte Frauen. Kein Wunder, dass insbesondere Feministinnen für derartigen Biologismus wenig übrig haben.

„Darwins Ansicht war das Dogma“, sagt Christel. „Das haben die amerikanischen Primatologinnen allerdings ins Bröseln gebracht.“ Wir wandern ein Gehege weiter, kleine dunkle Äffchen mit einem blonden Pelz um Kopf und Schultern sind damit beschäftigt, Nüsse auf Ästen aufzuklopfen, tack, tack, tack. „Das sind meine Lieblinge“, sagt Christel. „Diese Kapuzineräffchen leben in großen Gruppen und ziemlich egalitär. Paviane dagegen haben oft einen Patriarchen und eine strenge Hierarchie.“ Es gebe meist einen Zusammenhang mit der Umwelt: Kapuzineraffen essen Früchte, Eier, Muscheln, sie haben einen reich gedeckten Tisch, jedeR kann Platz nehmen. Es bleiben Zeit und Muße für Verhandlungen. Paviane hingegen leben in kargen Gegenden, bei ihnen gibt es dominierende Männchen. „In vielen Fällen kann man sagen: Je schwieriger die Lebensbedingungen, desto strenger die Hierarchie“, sagt Christel. „Vor allem aber gibt es eine riesige Vielfalt an Gesellschaftsformen.“ Und immer wieder beobachteten VerhaltensforscherInnen etwas, das nicht in das Darwin-Dogma passte. Paviane etwa haben keineswegs unter allen Umständen einen Harem, häufig sind mehrere Männchen in einer Weibchengruppe aktiv. Weibchen bevorzugen auch oft nicht das fitteste Männchen als Sexualpartner, sondern soziale, die bei der Aufzucht der Jungtiere helfen.

Berühmt wurden die kongolesischen Bonobos, Zwergschimpansen. Sie sind im Affenhaus ganz hinten und warten ebenfalls gerade aufs Essen. Ein Jungtier klettert ein Seil hoch und wedelt mit seinem Spielzeug, einem Kartoffelsack. „Da vorne, die mit der besonderen Frisur, das ist Yala, sie war auch das Thema meiner Doktorarbeit“, erzählt die Biologin.

Eine Bonobogruppe wird oft von einem Weibchen geführt. Berühmt wurden die „zärtlichen Affen“, so nannte sie ihr Erforscher Franz de Waal, weil sie so viel Sex haben. Die Weibchen paaren sich nicht nur mit dem möglichen Vater ihrer Kinder, sondern quer durch den Garten. Was wiederum nicht gerade für darwinistisches Hüten der Gene spricht. Auch reiben oft zwei Weibchen ihre Genitalien aneinander, „GG-Rubbing“ – genital to genital – haben die PrimatologInnen das getauft. Wie der Mensch sehen sich diese Affen beim Sex ins Gesicht. „Bonobos regulieren fast alles über Sexualität“, erklärt Christel, „Spannungsabbau, soziale Interaktion, Konflikte schlichten. Und die Weibchen scheinen mehr an Sex interessiert als die Männchen. Das hat uns als Primatologinnen natürlich gefallen,“ sagt Christel. Da ist von Darwin nicht mehr viel übrig.

PrimatologInnen sind eben auch nur Menschen. In Zeiten patriarchaler Familien wurden patriarchalische Strukturen in die Tierwelt hineingelesen. Wo Frauen als Besitztum gelten, wird dies auch auf Affen übertragen, es hieß, sie lebten in einem Harem. Feministische Primatologinnen haben das dann anders interpretiert: „Warum sollten sich ein paar Weibchen nicht ein Männchen teilen? Mehr sind für eine effiziente Fortpflanzung eigentlich nicht nötig“, sagt Christel. Wie man hineinguckt, so guckt es heraus: Primatologists are looking at primatologists war in den Achtzigern das Motto. Es wurde kritisch geprüft, was Primatologen auf die Affen und zurück übertrugen.

Biologistische VereinfacherInnen verabsolutieren in ihren populärwissenschaftlichen Büchern meist nur das Modell, das ihnen in den Kram passt: Das Männchen dominiert, das Weibchen ist passiv – dass es so ist, sieht man schon in der Natur; sorry, Ladys, so ist es, verkünden etwa Allan und Barbara Pease in ihrem Bestseller „Warum Männer immer Sex wollen und Frauen von der Liebe träumen“.

So eine These würde es in keine ernst zu nehmende Zeitschrift schaffen, sagt Christel. „Warum sollten Menschen sich nur wie eine bestimmte Art von Pavianen verhalten – und beispielsweise nicht wie Bonobos?“

Wo ist der Pavianfelsen? Familien bummeln mit uns durch den Garten. Immer wieder helle Kinderstimmen, die aufjuchzen, wenn sie neue Tiere entdecken. Da, die Paviane, ein Männchen stolziert rund um den Felsen im Gehege, einen beeindruckenden Schulterpelz trägt es zur Schau. Je verschiedener Weibchen und Männchen aussehen, desto eher gibt es auch eine Hierarchie zwischen ihnen. Wie bei den Pavianen: Die Männchen tragen diesen dicken Pelz, haben länge Reißzähne und einen ausgeprägten Machogang. Die Weibchen sind kleiner und unscheinbarer. Menschen dagegen haben nur einen mäßig ausgeprägten Sexualdimorphismus, wie das Fachwort für die Unterschiedlichkeit der Geschlechter lautet.

Was lehrt uns die Primatologie nun in Bezug auf weibliche Lust? „Dass Weibchen sexuell genauso aktiv sind wie Männchen,“ sagt Christel. In den USA ist gerade ein Buch des Journalisten Daniel Bergner Bestseller, „Die versteckte Lust der Frauen“ heißt es auf Deutsch. Bergner beschreibt, wie WissenschaftlerInnen lange der Meinung waren, dass viele Tierweibchen den Sex mehr oder weniger erstarrt über sich ergehen lassen. Dass gerade Primatenweibchen ihre Sexobjekte regelrecht anbaggern, wurde ignoriert: Primatologists are looking at primatologists. „Was die Wissenschaft unter den Affen erfolgreich übersehen – und damit de facto ausradiert hatte, war das weibliche Verlangen“, schreibt Bergner. Alte Ängste vor der aktiven Sexualität der Frau spielen eine Rolle. Die Monogamie könnte gefährdet sein und damit das Exklusivrecht des Mannes auf seine Frau.

Es war die amerikanische Biologin Sara Blaffer-Hrdy, die der Promiskuität der Weibchen einen evolutionären Sinn zuschrieb: Sie wollen zwar die besten Gene, an diesem Dogma rüttelt Blaffer-Hrdy nicht, aber sie verlegen die männliche Konkurrenz quasi nach innen: Sie paaren sich mit mehreren Männchen, und lassen die schnellsten Spermien gewinnen. So hätte auch der verzögerte weibliche Orgasmus einen Sinn: Sie ist nicht so schnell befriedigt und paart sich deshalb mit mehreren Männchen hintereinander.

Um die Brücke vom Affen zum Menschen zu schlagen, erzählt Bergner von einem Experiment der Sexologin Meredith Chivers. Dabei wurde die Erregung von Frauen und Männern an ihren Genitalien gemessen, während sie verschiedene Pornos betrachteten. Dazu sollten sie mit einer Tastatur selbst einschätzen, wie sehr die jeweilige Darstellung sie erregte. Heterosexuelle Männer wurden von weiblichem Sex angeturnt, Homosexuelle von männlichem. Ihre Selbsteinschätzung entsprach dabei den Messergebnissen an den Genitalien.

Bei den Frauen war es anders: Sie ließen sich, so zeigte es das Messgerät, von vielen verschiedenen Darstellungen erregen, von schwulem Sex, Heterosex, Lesbensex, onanierenden Menschen, kopulierenden Affen. Aber auf der Tastatur gaben die Frauen etwas anderes an: Heteras bemerkten ihre Erregung nur beim Heterosex und Lesben nur beim Lesbensex. „Der Verstand verleugnete die Vagina“, schließt der Autor. Für ihn ist das ein Nachweis der jahrhundertelangen Unterdrückung weiblicher Sexualität. Lust, die die Tiere noch direkt ausdrücken, wird von Menschenweibchen ignoriert, weil die patriarchale Kultur ihnen diese nicht zugesteht. „Die weibliche Lust ist durch und durch animalisch.“

Marianne Christel ist amüsiert, als ich ihr von Bergners These erzähle. „Das wissen wir doch schon seit zwanzig Jahren“, sagt sie. „Offenbar ist die amerikanische Gesellschaft, die das Buch nun verschlingt, jetzt erst bereit, sich mit dieser These auseinander zu setzen.“ Wir sitzen mittlerweile im Affenhaus und sehen zu, wie die Schimpansen gefüttert werden. Äpfel, Blumenkohl, Möhren. Vor uns zerlegt eine Schimpansendame eine Möhre in mundgerechte Stückchen. Ihr Kollege hat in jeder Hand und in jedem Fuß eine Möhre und wandert so ausgestattet durch den Raum.

„Bei der weiblichen Sexualität haben wir es mit einem Primatenerbe zu tun“, sagt Christel. „Die Frau hat die gleichen Bedürfnisse wie der Mann.“ So wie die Affen hätten auch die Menschenfrauen eine aktive Sexualität gehabt, die kulturell überlagert wurde. „Es gibt seit mindestens sechzig Millionen Jahren Primaten, den Menschen als Homo sapiens gerade mal seit circa zwei Millionen. Dass Frauen in dieser Hinsicht nicht sein sollten wie Primaten, ist lächerlich.“ Wann die kulturelle Überlagerung stattfand? Tja, seit wann gibt es das Patriarchat? „Vielleicht hat das mit dem sesshaft werden zu tun, mit dem Aufkommen von Besitz. Frauen wurden dann ja zum Besitz dazu gezählt.“

Die Bücher des Bestseller-Autorenpaares Allan und Barbara Pease werden von Urmenschen bevölkert. „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“, haben sie geschrieben, und eben auch „Warum Männer immer Sex wollen und Frauen von der Liebe träumen“. Männer sind sexuell aktiver, weil sie mehr Testosteron haben. Frauen dagegen verfügen über das so genannte Kuschelhormon Oxytocin, um es in der Familie nett zu haben. Sie wollen einen Beschützer und Versorger. Kann das Männchen ihnen den Zugang zu Ressourcen garantieren, dann haben sie im Tausch mit ihm Sex. So war es schon immer und so wird es immer bleiben.

Aber hatten die „Urmenschen“, wer auch immer das genau sein soll, überhaupt so eine rigide Rollenteilung? Haben sie sich nicht auch der jeweiligen Umwelt angepasst? „Man unterschätzt die Plastizität solcher Gemeinschaften“, sagt Marianne Christel. Sogar in den gestrengen Paviangruppen kann unter Umständen auch ein Weibchen die Führung übernehmen. Und Männchen tragen Kinder oft bis zur Entwöhnung. „Die Menschengruppen werden sich wohl auch an die jeweilige Umwelt angepasst haben,“ sagt Christel.

Wir stehen jetzt bei den Hanuman-Languren, kleine schwarzgesichtige Wesen mit einem eleganten silbergrauen Pelz. Sie gucken weniger süß als die Schimpansen, eher grimmig. Sie wurden als besonders grausame Art berühmt. Es kommt vor, dass ein Männchen, das eine Gruppe von Weibchen neu erobert hat, weil das zuständige Männchen schwächelte, sämtliche Kinder des Vorgängers totbeißt. „Da zeigte sich, dass unsere natürlichen Verwandten auch scheußliche Verhaltensweisen drauf haben. Vielleicht sogar pathologische,“ erklärt Christel. Man kann das natürlich immer noch darwinistisch interpretieren, aber allein die Tatsache, dass kaum eine andere Art so ein Verhalten zeigt, könnte darauf hinweisen, dass die Natur es ausschließlich so nicht will. Und „natürliches“ Verhalten nicht immer gut ist.

Was heißt es, wenn man Darwin in Frage stellt? Dass es viel eher um Anpassung an Umwelten geht als um den „Stärksten“. Und ist nun die Emanzipation der Frauen in der Evolution vorgesehen? „Ja“, sagt Marianne Christel. „Der Mensch hat ein monokulturelles Merkmal aus verschiedenen evolutiven Modellen gefiltert, in dem das Männchen dominierte. Die Bedingungen heute hingegen sind so, dass wir eine größere Egalität herausbilden können. Und auch für so ein Modell können wir uns bei unseren Primatenvorfahren bedienen, denn auch das ist in unserem Erbe.“ Wenn sich Gesellschaftsformen bei den Primaten verändern, verändern sich dort auch die Rollen. „Fällt das führende Männchen weg, dann gibt es auch eine Art Revolution. Und nicht selten führen dann auch die Weibchen.“

Was Christel für ganz offensichtlich hält, ist, dass die weibliche Lust in der männlichen Monokultur unter die Räder kam. Aber was bedeutet es, wenn die Frauen heute ihr Primatenerbe entdecken und ihre Lust? Sie werden promisker. Daniel Bergner befürchtet genau das. Den Damen werden ihre Herren auf die Dauer langweilig und sie ziehen sich dann nicht mehr höflich zurück, als sei Sex ihnen gar nicht so wichtig – sondern sie suchen Sex woanders. Bergner sieht massenhaft Ehen scheitern und plädiert dafür, die abnehmende Lust der Frauen auf ihren Partner daheim mit einem neuen Viagra für Frauen zu kompensieren. Darüber lacht Marianne Christel nur: „Da will er ja wohl der Pharmaindustrie einen Gefallen tun.“

Also kann es sein, dass unser Primatenerbe dafür sorgt, dass die Ehe am Ende ist? „Es kann sein, dass die Langzeitehe verschwindet. Kurzzeitehen werden der nächste Schritt in unserer Gesellschaft,“ sagt Christel. „Nur ein Mann und eine Frau, das ist für den Menschen nicht adäquat. Genauso wenig wie rein heterosexuelle Modelle.“

Die Primatologie beendet also die Ära der modernen Kleinfamilie, so scheint es. „Wenn man davon ausgeht, dass das biologische Erbe ein anderes ist, als das, was von den Menschen heute so verlangt wird, dann wird man diese Rollenverhältnisse kritisieren. Es gibt ja auch heute schon wieder größere unterstützende Gemeinschaften als die herkömmliche Blutsverwandtschaften. Das könnte unserem Primatenerbe viel näher kommen.“

Eine Durchsage im Zoo: Das Affenhaus schließt um vier. Wir stellen uns die Erleichterung der Affen vor, wenn niemand mehr an die Scheibe klopft, kreischt und hampelt. Wir machen uns auf den Weg nach draußen.

Was passiert eigentlich mit den Männern, wenn die Frauen sich sexuell emanzipieren? „Bei den Männern wird einiges passieren. Wir leben in einer revolutionären Situation: Der gesellschaftliche Rang von Männern wurde immer über den Zugang zu Frauen, die Heterosexualität definiert. Wenn sich heute zwei Männer im Fernsehen küssen können, dann ist das ein Paradigmenwechsel, und zwar an der Wurzel“, sagt Christel.

Aber was wird aus den Menschenmännchen, die sich immer noch am Modell Alphatier orientieren, wenn die Gesellschaft egalitärer wird? „Die werden sich umstellen. Sie haben ja auch eine Verhaltensplastizität.“ Wie lange die Evolution dafür braucht? Einstweilen unklar.

Heide Oestreich, 45, ist taz-Redakteurin für Geschlechterpolitik

Sonja Trabandt, 35, ist freie Fotografin in Berlin