Nicht nur Biedermeier!

BUCHMESSE 2 Mit Sasa Stanisic gewinnt ein perfekter Stilist den Hauptpreis für seinen Roman „Vor dem Fest“. Katja Petrowskaja wirkt wie die heimliche Gewinnerin – und die deutsche Literatur scheint entgegen aller Einwände wohlauf

Sasa Stanisic hat für seinen Roman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen bekommen. Anhand der Geschichte einer uckermärkischen Gemeinde entwirft der Autor eine Weltgeschichte im Kleinen, in der die Generationen der Ahnen immer präsent sind, und sei es auch nur als gewitzte Erzählung, die sich die Archivarin des schrumpfenden Dorfs ausgedacht hat. Seinem Roman hat Stanisic ein Zitat eines britischen Rappers vorangestellt, der darüber sinniert, wie unwahrscheinlich es ist, das Ergebnis eines Überlebens zu sein, das sich über Milliarden von Jahren spannt.

Vor der Messe hatte den Betrieb die Frage umgetrieben, ob die deutsche Literatur immer selbstbezogener und provinzieller werde, wie Maxim Biller mutmaßte. Die Kinder und Enkel der Migranten – in der Gesellschaft Teil eines radikalen Prozesses der Erneuerung – erzählten nicht vom Fremdsein. Eines der Beispiele, die Biller nannte, war der Roman von Sasa Stanisic, den viele auf der Messe gut fanden, während sich andere fragten, was der Punkt dieses perfekt geschriebenen Text sei.

Billers Polemik gegen die neue Biederkeit ist im Kern richtig, im Detail falsch. Nicht nur Sasa Stanisic, auch Feridun Zaimoglu warf er Anpassertum vor. Dabei zeigt Zaimoglus Roman „Isabel“, dass man mit Identitätshuberei, zu der das Beharren auf dem großen Herkunftsunterschied schnell werden kann, der Wahrheit auch nicht näher kommt. Seine Titelheldin ist von einer Wut ergriffen, die sie von den anderen (vor allem von den Männern) absondert – und das ist nicht so, weil ihre Eltern Türken sind, sondern weil sie als Mensch und Individuum beschädigt ist. In „Isabel“ erfindet Zaimoglu einmal mehr eine Schreibweise für das, was abseits bürgerlicher Bildungsklischees gedacht und geredet wird. In die Shortlist des Buchpreises ist der Roman nicht aufgenommen worden.

Zwei der Bücher, die auf der Shortlist standen, sind von „Migranten“ geschrieben worden. „Vor dem Fest“ von Stanisic ist das eine, „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja das andere. Erst am Ende einer langen Auseinandersetzung innerhalb der Jury hat man sich entschieden. Beinahe wäre also Petrowskajas Buch ausgezeichnet worden, dessen Sätze in Spiralen um die verschüttete Familiengeschichte der Erzählerin kreisen.

Der Schmerz des Verlusts hat seinen Ursprung in Berlin, der Stadt, in der Katja Petrowskaja aus Kiew seit 1999 lebt, aber auch in der Geschichte der Sowjetunion. Als letztes Enkelkind der UdSSR fühlt sich die Autorin, die eigentlich Stern hieße, hätte nicht ihr Großvater Schimon Stern als Kommunist im Untergrund den Decknamen Semjon Petrowskij angenommen.

Katja Petrowskajas Vorfahren, von denen einige in der Schlucht von Babij Jar ermordet worden sind, waren über Generationen hinweg als Taubstummenlehrer tätig. In ihren eigenen Gesten halle die Gebärdensprache nach, ohne von den Händen noch beherrscht zu werden, schreibt sie. Wenn man Katja Petrowskaja am Abend nach der Preisverleihung beim Tanzen zusah, meinte man das sehen zu können. Solange Katja Petrowskaja so wunderbar schreibt, wie sie tanzt, ist die deutsche Literatur wohlauf.

ULRICH GUTMAIR