TEMPORÄR HALB TAUB
: Weggeblendet

Mich um 90 Grad drehend brachte ich mein rechtes Ohr ins Spiel

Plötzlich, beim Duschen, war es passiert: Mein linkes Ohr war zu. Komplett. Die Resthörfähigkeit betrug vielleicht noch zehn Prozent. Die Sache war unangenehm, keine Frage. Allerdings wiederum auch nicht so unangenehm, als dass ich mich zum sofortigen Handeln gezwungen gesehen und einen HNO-Arzt konsultiert hätte. Stattdessen saß ich beim Fernsehen von nun an seitwärts. Und beim Telefonieren verwendete ich nur noch das rechte Ohr.

Jeden Morgen, wenn ich aufwachte und das Ohr war immer noch zu, nahm ich mir fest vor, diesmal wirklich zum Arzt zu gehen – um es dann aus mir unerfindlichen Gründen doch nicht zu tun. So ging das mehr als eine Woche lang. Und mit der Zeit begann ich auch die positiven Seiten meines temporären Halbtaubseins zu entdecken: Wenn beispielsweise in der U-Bahn ein Baby zu schreien anfing, brauchte ich mich bloß lässig zur Seite zu drehen und konnte so das Geheule problemlos herunterpegeln. Zudem war ich jetzt in der Lage, auch im Café konzentriert zu arbeiten – solange rechts von mir niemand saß.

Irgendwann, als ich beinahe schon so weit war, die Situation als Dauerzustand zu akzeptieren, stand ich im Bioladen an der Kasse. Als meine Produkte eingescannt waren und mir der Kassierer den Preis nannte, verstand ich ihn nicht. Auf gut Glück hielt ich ihm einen Schein entgegen, den der Mann jedoch zurückwies und stattdessen seine Forderung erneuerte. Wieder verstand ich: nichts. Ich drehte mich also um neunzig Grad, um mein rechtes Ohr ins Spiel zu bringen, was die Frau hinter mir sichtlich irritierte, der ich ja nun frontal gegenüberstand, während ich den Kassierer bat, mir den Preis noch einmal zu nennen. Das wirkte wahrscheinlich bescheuert.

Eine halbe Stunde später saß ich im gut gefüllten Wartezimmer einer HNO-Praxis in der Danziger Straße.

ANDREAS RESCH