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Archiv-Artikel

Heutiges Provinztheater

Seit neun Jahren führt Intendant Gerhard Hess die Landesbühne Wilhelmshaven auf modernem Kurs. Das Publikum dankt es ihm. Heute wird das Stück „Pleite...“ uraufgeführt.

Die Landesbühne hat in den vergangenen Spielzeiten durchschnittlich 100.000 Besucher gelockt

AUS WILHELMSHAVENBENNO SCHIRRMEISTER

Das Licht muss noch nachjustiert werden. Die Stimmung ist jetzt gerade einen Moment gereizt gewesen, weil es eine Veränderung gab, die nicht abgesprochen war, und weil die Durchlaufprobe hat abgebrochen werden müssen. Ganz zornig ist Reinhardt Friese geworden, „das tu ich mir jetzt nicht den ganzen Abend an“ hat er gerufen, und ist hinter die Bühne geeilt: Irgendwie war ein Schatten aufs Gesicht des Hauptdarstellers gefallen. Aber danach, das war deutlich zu spüren, hat es dem Regisseur furchtbar Leid getan, dass er so schroff war, und hat, den Technikern zugewandt, dreimal wiederholt, dass es überhaupt nicht deren Schuld sei. „Das ist überhaupt nicht eure Schuld.“ Und es bleibt die einzige Unterbrechung.

Friese hat auch allen Grund zur Zufriedenheit. Das Stück steht, okay, einen Texthänger hat es gegeben, aber die Premiere ist auch erst am Samstag, noch drei Tage also. Und es ist ein verdammt sperriges Stück. Extrem kondensiert – drei Rollen nur und die Hauptlast trägt die Figur, die einfach nur „Der Mann heißt“: Thomas Hary spielt den, muss das Schillern zwischen Verzweiflung, Sarkasmus, Anarchie und abstruser Komik in ellenlangen Monologen herausdrechseln, so überzeugend, dass es den ganzen Saal berührt, alle 500 besetzten Plätze erreicht: „Un homme en faillite – Pleite, Anfang und Ende“ heißt die Farce, geschrieben hat sie David Lescot, einer der Lieblingsdramatiker der gegenwärtigen Pariser Intellektuellenszene. Stuttgart wollte die Uraufführungsrechte, genauso wie ein Festival in Frankreich und ein anderes in Einburgh. Und jetzt sind sie doch wo ganz anders gelandet. In Wilhelmshaven nämlich. Im Stammhaus der Landesbühne Niedersachsen-Nord.

Landesbühne das heißt: Nach der Aufführung im Mittelzentrum Tingeln durch die übrigen Städte des Theaterzweckverbandes, Jever, Emden, Aurich, schaurig, Überfahrt auf die Inseln, Kurtheaterbespielung. Landestheater ist also ein anderes Wort für Provinztheater. Und wer Provinztheater sagt, meint, auch schon alles nötige darüber gesagt zu haben.

Wilhelmshaven zeigt, dass nicht alle sich mit dem unterstellten Hinterwäldlertum arrangieren: „Für uns ist wichtig“, sagt Friese, Oberspielleiter des Hauses „dass unser Theater heutig ist. Dass man mit den Stücken etwas sagen kann.“ Das ist Konsens im Haus: „Wir sind hier kein Befriedigungsbetrieb“, behauptet der Intendant, Gerhard Hess. Und meldet Ansprüche an: „Wir wollen die ästhetische Diskussion der Metropolen nicht ausklammern.“ Dass der Schweizer das auch wirklich tut, lässt sich an den Spielplänen ablesen und am Echo in der Fachpresse. Da war, im vergangenen Jahr, die Ausgrabung des seit Menschengedenken nicht mehr aufgeführten barocken Trauerspiels „Ermordete Majestät“ von Andreas Gryphius, das in der aufkochenden Terrordebatte tagesaktuell geworden war: Begeistert schrieb die Theaterzeitschrift Deutsche Bühne von dem „fesselnden Abend zum Thema Religion und Politik“, lobte „düstere Symbolik“ und „präzise gezeichnete Charakter-Typen“. Für den „Abseits der Zentren“-Theaterpreis ist das Haus nominiert. Dass man zum „Herzrasen“-Festival ins Hamburger Schauspielhaus eingeladen worden ist, „hat uns natürlich sehr geschmeichelt“, sagt Hess: Als eines der ersten Theater in Deutschland hat die Landesbühne den Bedarf eines „Alten-Theaters“ entdeckt. Und umgesetzt: „Vom Winde…“ heißt das Stück, basierend auf einer berühmten Hollywood-Schnulze, und die Scarlett ist mit einer 80-Jährigen besetzt, „eine ganz außergewöhnliche Dame“, wie man von Hess erfährt.

Drei Uraufführungen jährlich bringt man heraus, und zwar nicht auf der Studiobühne. „Da spielen wir die Schwänke“, sagt Hess. Für „die großen Brocken“, für das Gegenwarttheater und „die sperrigen Sachen“, die finden im großen Haus statt, wie Lescots Stück. Was es erzählt ist die Geschichte einer privaten Pleite: Ein Mann wird von seiner Frau verlassen, die Arbeitslosenhilfe ist im Begriff auszulaufen, sein Hab und Gut wird verpfändet. So. Und dann fängt er an – zu lesen. Einen Trivialroman, The Shrinking Man, der, wenn er übersetzt worden wäre, Der schrumpfende Mann hieße – die Vorlage dieses legendären 50er-Jahre B-Movie, wo ein Mann schrumpft. Und der Pleitier wählt ihn sich zum Rollenbild für eine störrisch-abstruse Verweigerungshaltung. Er tritt aus der Gesellschaft aus. Schmeißt das, was der Gerichtsvollzieher ihm lassen muss, in den Müll. Wird ein Gegenentwurf. „Die Art Mensch, die einen das Fürchten lehrt“ – das ist sein letzter Satz. Jetzt stimmt auch das Licht:Da sitzt der Schauspieler Hary, im Unterhemd und im Tütü ein Bild, beklemmend und lächerlich, auf einer leeren Schräge, und starrt ins Publikum, das noch nicht da ist.

Aber das wird kommen:Tatsächlich hat die Landesbühne in den vergangenen Spielzeiten durchschnittlich 100.000 Besucher gelockt. Als Hess dort vor neun Jahren zum Chef gewählt wurde, waren es gut 20.000 weniger.Und das Programm, dass Außenstehende ehrgeizig nennen würden, ist ihm zufolge „unsere einzige Chance“. Wenn bloß das Repertoire heruntergenudelt würde, dann stürbe das Theater wirklich. Also hält er seinen Kurs, reist und reist und reist, ständig auf der Suche: Schauspielschulen klappert er ab, und wirbt für das Ensemble an Deutschlands Death End, Jung-Regisseure holt er an den Jadebusen, die Potsdamer Autorin Katharina Gericke hat er entdeckt und ans Haus gebunden: Der in Stuttgart uraufgeführte „Maienschlager“ war 1998 eines der meistbeachteten Theaterdebüts. Seither hat Gericke fast jährlich ein Stück für Wilhelmshaven geschrieben. „Anfangs“, erzählt sie, „gab es Proteste und schlechte Kritiken“. Aber Hess habe sie nicht fallen gelassen. „Mittlerweile“, sagt die Dramatikerin, „warten die Leute immer schon auf ein neues Stück von mir.“ Der besondere Reiz der Bühnenarbeit dort? „Das ist Theater in seiner unmittelbaren Form.“

Lange aushalten wird es trotzdem niemand. Regisseur Friese zum Beispiel steht auch vor dem Abschied: Der Oberspielleiter wird Wilhelmshaven Ende der Saison verlassen – 25 Inszenierungen wird er dann binnen vier Jahren zur Aufführung gebracht haben – ein irres Pensum. Tourneebetrieb, 530 Aufführungen pro Saison, künftig muss sogar am Ostermontag gespielt werden. Das geht an die Substanz. Am Ende von „Pleite –Anfang und Ende“, da wird vom Shrinking Man erzählt, er messe nur noch zwei Mikrometer. „Zwei tausendstel Millimeter. Das ist klein.“, sagt Der Mann. „Aber es geht noch kleiner.“ Wie sarkastisch. Denn fürs menschliche Auge hat er da schon längst aufgehört zu sein.

Uraufführung „Pleite...“ heute, 20 UhrInfos: www.landesbuehne-nord.de