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Archiv-Artikel

Ein Altbausumpf vor Minsk

STADT DER DICHTER Wäre Berlin, die kurz vor Minsk gelegene Billigabsteige, nicht schon da, die deutschen Verlage hätten es erfinden müssen. Oder haben sie es gar erfunden? Ein Reisebericht von Berlin nach Frankfurt und zurück

Berlin ist die einzige Stadt, in der man sich allein von Wichtigkeit ernähren kann

VON ULI HANNEMANN

Frankfurt Hauptbahnhof, um die Mittagszeit. Es ist der letzte Tag der Buchmesse. Der Bahnsteig ist gefüllt, Schriftsteller und Journalisten warten auf ihren Zug zurück nach Berlin. Gesichter, die mir entfernt bekannt vorkommen, grüßen einander lässig im Vorübergehen. Man kennt sich. Für sie ist es jedes Jahr dasselbe. Für mich das erste und von mir aus gerne auch das letzte Mal.

Im Bereich für die Erste Klasse mustert ein Lackaffe in Lackaffenklamotten durch eine Lackaffenbrille im fünftagebärtigen Lackaffengesicht hindurch mit vergrämtem Hochmut das Fußvolk, das, die Nervenbahnen mit gegorenem Apfelsud vergiftet, an ihm vorbei weiter Richtung Zweiter Klasse tapert. Auf unheimlich interessante Weise schmerzensreich blickt der Lackaffe hinterher – so wird auf Anhieb klar: ein Schwerschriftsteller.

Dafür, dass ihn kein Schwein kennt, wirklich eine starke Leistung. Am Detail muss er allerdings noch feilen, da das Fahrtziel die ansonsten fast perfekte Mimikry der erfolgreichen Edelfeder auffliegen lässt. Denn in Berlin wohnt zwar die Mehrheit der Autoren, aber damit eben auch die Masse. Zur Buchmesse werden sie mit zusätzlichen ICEs namens „Kirchenmaus“, „Möchtegern“ oder „Truckenbrodt“ nach Frankfurt transportiert. Dort werden sie auf Verlagspartys abgefüllt, damit sie ihr Elend wenigstens einmal im Jahr vergessen können, um anschließend so schnell wie möglich in ebendieses Elend rückgeführt zu werden. Berlin ist nämlich die einzige Stadt der Welt, in der man sich allein von Wichtigkeit ernähren kann.

Das haben die Verlage schlau eingefädelt, als sie das Autorendisneyland Berlin erschaffen haben: Erst irgendwo im Osten eine zukunftslose Brache gesucht, diese kurz vor der Ausfahrt Minsk gefunden und mit immer neuen Fantasy-Gimmicks wie „Kastanienallee“, „St. Oberholz“ und „Kreuzkölln“ versehen, wo Autoren billig vor sich hinvegetieren und sich dabei dennoch cool finden können. Als nächstes alle Autoren, die nicht eh schon da sind, mit der Begründung dorthin gelockt, da seien schon so viele andere Autoren, mit denen sie dann doch prima zusammen spielen könnten. Und schließlich den Rest, der das immer noch nicht kapieren will, mit mehr oder weniger subtiler Gewalt wie Verlagsumzügen, Schmeicheleien oder Drohungen ins Literatenreservat verfrachtet. Deckel drauf und Hugh. Der belesene Mann spricht mit gespaltener Zunge, denn die schreibenden Indianer sind nicht mehr wirklich frei. Ihnen bleibt nur der Anblick von Chief Sascha Lobo auf der Schönhauser Allee sowie schlechtes Feuerwasser. Und einmal im Jahr die Frankfurter Buchmesse.

Dort hat es weiterhin einen besonders guten Klang, wenn die Autoren aus Berlin kommen; seltsamerweise, denn erstens kommen fast alle aus Berlin, und zweitens scheint ihnen folglich ja das Potential zu fehlen, sich Originelleres zu leisten als ein Leben in diesem „wunderbaren Schmelztiegel der Kreativität“, dieser „sich stetig selbst erneuernde Brutstätte der Ideen“. Längst arbeitet in Berlin keiner mehr; vormals tüchtige und sinnvolle Berufsgruppen wie Taxifahrer, Entbeiner oder Türsteher sind verschwunden – sie alle schreiben jetzt oder töpfern wenigstens ein Nashorn.

Der teuflische Plan der Verlage ist aufgegangen, und wie immer geht es letztlich um das liebe Geld: ein Heer von Billigautoren, die dicht an dicht in einem abgelegenen Altbausumpf herumpaddeln, aus dem man ab und an einen besonders bunten Fisch oder Vogel herauszieht. In Kombination mit dem genialen Schachzug, mit unterbezahlten Volontären vollverantwortliche Lektoratsstellen zu besetzen, produziert man auf diese Weise herrlich billige Bücher. Von dem gesparten Geld lassen sich am Ende die tollsten Partys ausrichten. Auf der Frankfurter Buchmesse. Der Zug fährt ab.