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Archiv-Artikel

„Das Nicht-Gesagte ist wichtig“

In den Stücken von Jon Fosse scheint man immer das Meer zu hören. Den Menschen dagegen fällt das Reden schwer. Dennoch reißen sich die Theater um ihn. Ein Gespräch mit dem norwegischen Dramatiker über das Schreiben und die Kraft des Gefühls

INTERVIEW SABINE LEUCHT

taz: Herr Fosse, was treibt Sie zum Schreiben?

Jon Fosse: Ich habe sehr jung zu schreiben begonnen, und schon damals hat mich vor allem der Akt des Schreibens interessiert und der Sound, der dabei entstand. Seither ging es allenfalls allgemein um das Leben und die Liebe – aber das Schreiben selbst ist für mich stets größer geblieben als sein Gegenstand.

Was dabei heraus kommt, sind meist sehr traurige Stücke, die „Schatten“ heißen, „Traum im Herbst“, „Die Nacht singt ihre Lieder“ oder „Todesvariationen“. Es passiert chronisch wenig und es wird sehr gerne gestorben. Und doch haben Sie Ihren ersten Roman aus der Einsamkeit des Internats heraus nach eigenen Aussagen für Ihr Wohlbefinden geschrieben?

Und verrückterweise hat es geholfen. Es ging damals um zwei sehr junge Mädchen, und eine von ihnen starb. Das Thema war übrigens geklaut. Ich habe also sehr epigonal begonnen.

Was heute kaum noch vorstellbar ist. Liest man einige wenige Sätze in einem Fosse-Stück oder -Roman, kann man sofort den Fosse-Sound identifizieren: abgespeckt bis aufs Skelett, voller rhythmischer Wiederholungen.

Manchmal benutze ich kleine, leere Wörter, um eine musikalische, repetitive Struktur herzustellen, Worte wie „ja“ und „nein“. Des Sounds wegen, aber auch weil es in jeder Sprache die am meisten benutzten Wörter sind. Da bin ich ausnahmsweise Realist. Ich habe aber nie versucht, minimalistisch zu schreiben. Es ist einfach so passiert. Seit 1983 in meinen Romanen, später auch in meinen Stücken. Als ich ungefähr 1992 mein erstes Stück „Da kommt noch wer“ schrieb, war ich sehr unsicher, ob es auf der Bühne funktionieren würde. Und als es das tat, war ich enorm überrascht. Heute finde ich: Theater ist eine sehr gute Möglichkeit, die Stille beredt zu machen.

Ihre Figuren sind nicht gerade sprachgewandt. Halten Sie es für keine gute Idee, dass der Mensch mit Zunge auf die Welt gekommen ist?

(Lacht) Vielleicht wäre er ohne besser dran. Aber nein, die Sprache ist ein Mysterium, weil sie Bedeutung transportiert. Und was zum Teufel ist Bedeutung? Und mindestens genauso oft wird Sprache dazu benutzt, etwas zu verstecken statt es zu zeigen. Und das kann Literatur: aufzeigen, wie wenig die Sprache enthüllt, indem man das Gesprochene oder mittels der Sprache Verschwiegene ins Verhältnis setzt zu dem, was andere sagen oder verschweigen. Für mich ist ohnehin das Nicht-Gesagte das Wichtigste. Aber ich glaube, dieses Misstrauen gegenüber der Sprache hat jeder Schriftsteller zu einem gewissen Grad. Wir trauen eher dem poetischen, musikalischen Kern der Sprache als der Bedeutung.

Ihre kammerspielartigen Stücke existieren in Deutschland auf den unterschiedlichsten Spielplänen neben bunten, mit Videobildern und Tanzeinlagen versehenen Klassiker-Aktualisierungen oder anderen Varianten des sogenannten Pop- oder Bildertheaters. Stillen Sie im Gegenzug einen Hunger nach dem, was Peter Brook das „arme Theater“ nannte: wo es nur die leere Bühne als Gehäuse gibt, die Schauspieler, die Sprache?

Ja, das ist meine Idee vom Theater: nur die Bühne und ein paar Schauspieler, das einfache, grundsätzliche Theater, das im Übrigen ja auch sehr viele Gesichter haben kann. Videos auf der Bühne, Theater, das versucht, wie ein Film zu sein, das ist nicht meine Sache. Ich verstehe nicht, warum man das macht. Theater hat doch seine eigene grundlegende Struktur und wenn man bei ihr bleibt, ist das mehr als genug. Die beste Definition von Theater hat meiner Meinung nach Lorca gegeben: „It’s a poem, standing up.“

Sie haben bislang etwa 30 dieser szenischen „Gedichte“ geschrieben: satzzeichenlos, und tatsächlich wie Verse umgebrochen?

Ungefähr 30 …

… die in wie viele Sprachen übersetzt wurden?

Ungefähr 40.

40? Jedenfalls wurden Sie allein im Jahr 2002 auf über 100 Bühnen von Petersburg bis Lissabon gespielt, Tendenz steigend. In Frankreich, heißt es, werden Sie geradezu vergöttert. Haben Sie Einblick in die unterschiedlichen Inszenierungspraxen?

Oh, es gibt Unterschiede, aber den größten macht immer der Regisseur aus. Und wenn ich jetzt beginnen würde, das französische, englische und skandinavische Theater zu charakterisieren, würde ich doch nur Klischees reproduzieren: in Frankreich der Expressionismus, das ekstatische Gefühl; in Großbritannien der gute alte Naturalismus. Die Klischees sind natürlich nicht alle falsch, aber interessant finde ich vor allem, dass das grundsätzliche Verständnis meiner Stücke in Russland, England und Pakistan dasselbe ist. Es wird eben nur unterschiedliches Theater daraus. Und auch Missverständnisse gibt es gelegentlich, aber auch die überall. Dass meine Stücke so stilisiert sind, kommt dem japanischen Theater entgegen. Ich habe eine Inszenierung in Tokio gesehen, die sich etwa auf halbem Wege zwischen einer westlichen und einer traditionell japanischen Arbeit befand, und auch das ging gut. Ich verstehe mich als eine Art Songwriter und gute Songs kann man in allen Sprachen singen. Mit unterschiedlichen Orchestern, in unterschiedlichen Stilen.

Hat es denn jemals eine Produktion gegeben, die Ihre Texte buchstäblich gesungen, in Musik rückübersetzt hat?

Ja. „Da kommt noch wer“ wurde in eine Oper verwandelt, und kürzlich hat ein Komponist zu einem Stück von mir Musik und Lieder geschrieben. Die Premiere war vor ein paar Wochen in Oslo. Man kann selbst das tun, ich glaube aber nicht, dass es nötig ist, da meine Stücke eine Art Musik in sich selbst sind.

Schaut man auf den Teil Ihrer Stücke, der in Deutschland bekannt ist, dann trifft man auf unterschiedliche Beziehungskonstellationen, aber die namenlosen Figuren haben alle miteinander gemein, dass ihre Vergangenheit mysteriös und ihre Zukunft vermutlich finster ist. Wo bleibt darin die Kraft der Liebe?

Nun, „Der Name“ ist vielleicht das einzige meiner Stücke mit einer halbwegs intakten Familie. Es gibt sicher einen Mangel an Harmonie, aber ich würde auch sagen, dass es eine Menge Gefühle gibt, sehr starke sogar. Sie werden nicht ausgesprochen, aber sie sind in dem, was passiert. Zum Beispiel in „Winter“, wo zwischen dem „Mann“ und der „Frau“ eine Leidenschaft erwacht, die aber wohl sein Familienleben zerstören wird. Und vielleicht sogar seine Karriere. Und wodurch das alles zerstört wird, das ist doch die Leidenschaft. Liebe zerstört auch. Das passiert sogar ständig, das Ende jeder Beziehung ist eine Art Tod im Leben.

Sie haben vier Kinder, beschreiben Ihre eigene Kindheit als glücklich. Woher rührt Ihre Besessenheit vom Tod?

Als ich sieben Jahre alt war, hatte ich einen Unfall, den ich fast nicht überlebt hätte, und während meiner Adoleszens habe ich einige Freunde in Unfällen verloren, zwei durch Krankheiten. Damit muss es etwas zu tun haben. Ich fürchte, ich bin Fatalist.

Schauen Sie sich diesen herrlichen blauen Himmel an. Könnte sich Ihr Schreiben verändern, wenn Sie in einem Land lebten, in dem es weniger als 300 Tage im Jahr regnet?

Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube nicht. Denn da ist auch die extreme Schönheit der norwegischen Landschaft, speziell die Schönheit der Küste. Und trotz des Regens, der Stürme und der langen, dunklen Nächte gibt es so viel Verwandlung und Abwechslung in dieser Natur: Ebbe und Flut, Fjorde und Meer, Seen und Berge. Wenn man Norwegen von Süden nach Norden durchquert, dann ist das genauso weit wie von Oslo nach Rom, man geht also quasi einmal quer durch Europa. Da auf dieser enormen Fläche aber nur zirka 4 Millionen Leute leben, ist die Natur überall sehr nah. Die Menschen in Norwegen leben von und durch die Natur, in meinem, dem westlichen Teil Norwegens speziell vom Meer. Auch wenn wir einige hervorragende Künstler haben, kann die Kultur nie die Schönheit und Bedeutung der Natur erreichen. Für einige ersetzt sie sogar die Religion.

Ihr Schreiben hat viel damit zu tun: Das Meer, das Boot, sie sind in Ihren Stücken fast allgegenwärtig. Von den sachten Wellenbewegungen Ihrer Sprache ganz zu schweigen. Und in Ihrem neuen Kinderbuch „Schwester“ fühlt sich ein kleiner Junge beim Einschlafen im Gras „wie eine kleine Welle“.

Ich bin am Fjord aufgewachsen und ich lebe in einem Hochhaus ungefähr drei Meter vom Meer entfernt. Zwar liegt es weit unter mir, aber durch das Fenster ist es sehr nah. Zur Entspannung fahre ich so oft es geht in meinem Boot hinaus. Ich brauche das Meer für mein Wohlbefinden und für mein Schreiben.

Hören Sie das Meer, während Sie Ihre Wellen aus Sprache und Schweigen kreieren?

Nein, aber ich könnte. Ich müsste nur die Tür zur Terrasse öffnen.