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Archiv-Artikel

Hör auf zu weinen, und küss deinen Bizeps!

TANZTHEATER Harte Jungs sind hier versammelt: Der HipHop-Choreograf Kadir Memis präsentiert sein neues Stück „Hüzün_Ein schmerzlicher Verlust“ im HAU 2. Es geht mehr um Machogesten als um Schwermut

In keinem anderen Theater Berlins können Zuschauer und Performer latente Unverbindlichkeiten so rührend miteinander teilen wie im HAU 2. Vor der Premiere des neuen Stücks von Kadir Memis alias Amigo fragt Anat Eisenberg, die hier im Januar 2011 das Verhältnis von Aufführung und Beobachtung thematisieren wird, die Gäste im Foyer: „Do you mind if we film you?“ – „Yes I do.“ Aus den Lautsprechern schallt ein Stück türkisch anmutender Musik, das sich beim genaueren Hinhören als Bearbeitung des Jazzstandards „A Night in Tunisia“, herausstellt. Ob damit schon Vincent von Schlippenbach alias DJ Illvibe am Werk war, der die Komposition für „Hüzün_Ein schmerzlicher Verlust“ besorgte?

Zuverlässig beginnt die Vorstellung eine Viertelstunde später, der Leiter des brasilianischen Tanzfestivals kann sich rechts von mir ausbreiten, links höre ich zwei Schweden die Tanzkompanie Flying Steps erwähnen, deren Gründungsmitglied Memis ist. Für diese Aufführung hat er Tänzer, Schauspieler, Musiker und einen Rapper zusammengebracht, um von dem „spezifisch türkischen Gemütszustand ‚Hüzün‘, der auch für kollektive Schwermut steht“ (Programmhinweise) zu erzählen.

An Anfang und Ende tun türkische Frauen und Männer in Istanbul ihre Vorstellungen von Männlichkeit per Videoprojektion kund: Für eine junge Studentin muss ein Mann immer überlegen sein, ihre Altersgenossen wünschen sich eine blonde Frau mit großen Titten.

Dazwischen fährt Rapper Bektas Turhan den umherirrenden Memis an: „Hör auf zu weinen, alle gucken uns zu!“, die Schauspielerin Natascha Paulick ist im Sackkleid fast den ganzen Abend auf Teigkneten festgelegt. Am Rande sitzt und spielt der Perkussionist Andreas Weiser auf dem aus Peru stammenden Cajon, daneben entlockt Nevzat Akpinar der türkischen Laute Baglama tatsächlich feinsinnige und lyrische Klänge.

Ein solcher Moment blitzt auf, als der ältere Schauspieler Cetin Ipekkaya das Istanbul-Gedicht des türkischen Dichters Orhan Veli Kanik hingebungsvoll rezitiert – einen Augenblick dürfen wir mit dem Klang der Sprache schweben, bevor die Übersetzung des Textes wiederholt projiziert wird. Aus Turhans Metropolen-Rap von Berlin stechen Wörter wie Moabit, Kreuzberg, Tourist, Friedrichstraße, SO 36 hart hervor.

Überhaupt sind hier harte Jungs versammelt: Eine Gang lauert dem Neuling im Revier auf, zwei Männer konkurrieren um die Aufmerksamkeit einer Frau, zwei andere messen sich in getanztem Wettstreit.

HipHop ist die verbindende Bewegungskultur, der alle Szenen folgen. Für Memis, der als eingewanderter Zehnjähriger im Vor-Wend-Berlin aufwuchs und seit Gründung der Flying Steps 1993 für die Verbreitung von zeitgenössischen urbanen Tanzstilen eintritt, habe, sagt er, das Tanzen einen Einfluss darauf, wie er sich in seiner türkischen Kultur fühle. Den im Breakdance unvermeidlichen Battle verhandelt Memis in jedem seiner Stücke, in „Hüzün“ konkurrieren Machogesten miteinander.

Mit einer gehörigen Portion Selbstironie prahlt Louis Becker seine tänzerischen Fähigkeiten an, er fasst sich betont überzeichnet in den Schritt und küsst seinen Bizeps. Zwar erzählen die Männer an anderer Stelle auch von selbst oder miterlebten Schmerzen bei der Beschneidung, keiner aber scheint loszulassen, um der Schwermut sichtbaren Raum zu geben. Darin liegt vielleicht der größte Mangel des Stückes, es traut der Verweildauer seiner Szenen nicht so recht.

Weniger choreografierte Tanzszenen, sparsamer eingesetzte Lichteffekte und mehr Vertrauen in die Eigenständigkeit der Darstellungsmittel Bewegung und Text hätten unter Umständen mehr Erfahrung vermittelt. FRANZISKA BUHRE