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Archiv-Artikel

„Drastischer als in den 80ern“

Viele Berliner fürchten Mieterhöhungen und Wohnungsverlust. Doch dagegen formiert sich Widerstand – Gertrud Schulte Westenberg und Matthias Coers über „Mietrebellen“

Die Filmemacher

■ Gertrud Schulte Westenberg arbeitet als Projektentwicklerin im Bereich Kultur und Bildung und als unabhängige Filmemacherin.

■ Matthias Coers fotografiert, produziert Videos für gemeinnützige Organisationen und macht Filme. Beide leben in Berlin. Für „Mietrebellen“ schrieben sie das Drehbuch und führten Regie.

INTERVIEW JANNIS HAGMANN

Kinotermine

■ Filmemacher und Protagonisten sind anwesend: Donnerstag, 5. Juni Mit Aktiven von Kotti& Co., 17.15 Uhr im Moviemento, Kottbusser Damm 22 ➤ Freitag, 6. Juni 18.30 Uhr im b-ware!-Ladenkino, Gärtnerstraße 19 ➤ Sonntag, 15. Juni 20 Uhr, im Kino Lichtblick in der Kastanienallee 77 ➤ Mittwoch, 18. Juni 19.30 Uhr in der Villa Neukölln, Hermannstraße 233 ➤ Mittwoch, 25. Juni 20 Uhr im Zukunft, Laskerstraße 5

■ Alle Vorführungen finden mit englischer Untertitelung statt. www.mietrebellen.de

taz: Frau Schulte Westenberg, Herr Coers, sind die Berliner nicht seltsam? Kaum jemand wohnt in den eigenen vier Wänden, die Leute mieten lieber. Damit stehen sie in ganz Europa ziemlich allein da.Matthias Coers: Zur Miete wohnen ist eine kulturelle Errungenschaft! In Metropolen ist Eigentum eigentlich nicht notwendig. In Berlin war zur Miete wohnen nie anrüchig, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg war das in allen Bevölkerungsschichten üblich. Und auch einen Mietvertrag besitzt man ja. Das gute deutsche Mietrecht ist nicht vom Himmel gefallen, sondern in einem demokratischen Prozess entwickelt worden. Das gute deutsche Mietrecht scheint aber zu versagen, sonst gäbe es die vielen Berliner*innen nicht, von denen Ihr Dokumentarfilm „Mietrebellen“ erzählt. Wer sind diese Menschen? Gertrud Schulte Westenberg: Mietrebellen kommen aus allen sozialen Schichten und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Viele der Mieter am Kottbusser Tor, die 2012 und 2013 die Lärmdemos gegen Verdrängung veranstalteten, sind Menschen mit Migrationshintergrund. In der Palisadenstraße in Friedrichshain protestierten Rentner gegen Mieterhöhungen. Auch die Besetzer der Stillen Straße in Pankow waren Rentner. Sie alle sehen, dass hier etwas politisch falsch läuft, dass zu wenig für den sozialen Wohnungsbau getan wird. Sind Mietrebellen ein neues Phänomen? Häuserkämpfe gab es ja auch schon in den achtziger Jahren. G.S.W.: Ich habe die Hausbesetzerszene der achtziger Jahre miterlebt und selbst in einem besetzten Haus gewohnt. Aber heute ist die Situation drastischer, weil die Gegenmacht viel größer ist. M.C.: Ich glaube, dass es die Mietrebellen in ihrer heutigen Form noch nie gab. Die Wohnkosten sind gestiegen. Gleichzeitig sind die Arbeitsverhältnisse überwiegend prekär. Menschen mit guter Ausbildung arbeiten befristet, Senioren haben ein kleines Einkommen. Dazu kommt die Vermassung durch Hartz IV. All diese Leute haben eines gemeinsam: die existenzielle Angst vor Wohnungsverlust. Der Widerstand kommt heute aus einer breiteren Bevölkerungsschicht als damals. G.S.W.: Und durch die Abstimmung über das Tempelhofer Feld fühlt man sich jetzt zusätzlich bestätigt. Das gibt neue Kraft und neuen Mut. Sie kämpfen für bezahlbaren Wohnraum in der Stadt. Finden Sie eine Bebauung des ehemaligen Flughafens nicht gut? G.S.W.: Ich nicht. Das Feld ist etwas so Besonderes! Und die Erschließungskosten wären hoch: Kanalisation, Zufahrtswege, Brücken, Nahverkehr. In Berlin gibt es 972 Hektar bereits erschlossene innerstädtische Baulandreserven – das ist 13-mal so viel wie die geplanten Bauflächen auf dem Tempelhofer Feld. M.C.: Man muss allerdings sehen, dass es auch auf anderen Flächen Bewohner gibt, die Anliegen haben. Aber in Tempelhof sollten 4.700 Wohnungen gebaut werden, 91 Prozent der Wohnfläche im hochpreisigen Segment. Das ist ein Witz. Das haben die Berliner erkannt und mit dem Volksentscheid die Konsequenz gezogen. Eine Bebauung haben die Berliner erst mal verhindert. Ist der Widerstand der Mieter, die sie in Ihrem Film porträtieren, auch erfolgreich? M.C.: Der Erfolg besteht darin, dass Menschen sich überhaupt ihrer Sache als Mieter annehmen, nicht passiv bleiben, sondern Kontakt zu Nachbarn aufnehmen und sich politisch äußern. Die Stille Straße und die Palisadenstraße waren extreme Erfolge. In der Palisadenstraße wurden die Mieten zwar um 25 Prozent erhöht, aber nicht wie geplant um 100 Prozent. Die meisten Rentner konnten dort wohnen bleiben. Haben Sie mit Ihrem Film Menschen motiviert, Widerstand zu leisten? M.C.: Der Film ergreift die Menschen emotional, gibt ihnen aber auch Wissen an die Hand. Ein entscheidendes Moment beim politischen Handeln ist es zu wissen, dass man nicht allein ist. Viele Leute treten ihrer Hausverwaltung gegenüber jetzt selbstbewusster auf und sagen sich: „Wir probieren das jetzt auch.“