: Ich hasse, also bin ich
Amokläufe von Schulkids verweisen auf eine rebellische Suche nach Identität. Wer meint, die Taten seien Ergebnis schlechter Einflüsse, hat das nicht verstanden
Was tun wir, wenn wir die Hersteller martialischer Computerspiele dafür verantwortlich machen, dass ein Jugendlicher in seiner ehemaligen Schule ein Blutbad anrichtet? Oder die soziale Kälte einer gnadenlosen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die sich um die Anerkennungsbedürfnisse der Verlierer nicht kümmert? Oder ein selektives Bildungssystem, das Lebenschancen ungerecht verteilt? Oder bestimmte Chaträume im Internet, die zu schließen wären? Oder die Erziehungsunfähigkeit überforderter Eltern? Oder die Waffenlobby. Oder eine schwere Kindheit?
Was wir damit tun, ist Folgendes: Unter der Hand verwandeln wir den Täter in eine Marionette, an der andere ziehen, nur er selber nicht. Indem wir seine Tat in bester Absicht zum Ergebnis widriger Umstände oder ungünstiger Einflüsse erklären, erklären wir ihn letztlich für unzurechnungsfähig. Wir nehmen ihm seinen Subjektstatus und gewähren ihm jenen Bonus der Unverantwortlichkeit, den er sich selber längst zugeschrieben hat, nämlich Opfer von Verhältnissen zu sein, die eigentlich schuld sind und als die „wahren Täter“ auf die Anklagebank gehören.
Die bittere Ironie des gängigen Ursache-Wirkung-Modells liegt darin, dass der wirkliche Täter, den wir mit seinem stummen Einverständnis zum Opfer gemacht haben, sich gerade entschieden hat, den Spieß umzudrehen und aus dem ihm gewährten Objekt- in den Subjektstatus zu wechseln. Er setzt sich zur Wehr und schlüpft aus der Maske des Erniedrigten und Gedemütigten in die des Rächers, der an seinen vermeintlichen Peinigern gnadenlos Vergeltung übt.
Schon beim Erfurter Schulmassaker im Jahre 2002 war dieses seelische Wendemanöver erkennbar. Robert S. machte den Tatort, der für ihn ein Ort der Niederlage war, zu einem Ort des Triumphs. Er war zugleich Drehbuchverfasser, Regisseur und Dramaturg einer Bühnenaufführung, in deren Zentrum er selbst als machtvoller Held agierte, der den anderen ihre Rollen zuwies. Nun war er nicht mehr der überforderte Versager, nicht länger der verkannte, übersehene, missachtete und schließlich unter demütigenden Umständen der Schule verwiesene Außenseiter, sondern eine mächtige Figur, die Schrecken und Tod verbreitete. Sein erklärtes Vorbild war der Massenmord an der Columbine Highschool, dessen Opferzahl er bekanntlich zu übertreffen suchte – mehr Leichen am Tatort, ein irgendwie fasziniertes Publikum, der vorfantasierte Nachruhm. Es war eine grandiose Selbstinszenierung, eine makabre Allmachtsfeier, die im furiosen Finale mit dem eigenen Tod endete.
Bei Sebastian M. in Emsdetten waren andere Vorbilder im Spiel. Nach Art palästinensischer Selbstmordattentäter hatte er sich einen Bombengürtel umgeschnallt. In Briefen hatte er seine spektakuläre Racheaktion mit der jahrelangen Erniedrigung durch Lehrer und Mitschüler begründet und als Beitrag zur „Revolution der Ausgestoßenen“ ausgegeben, denen er sich zugehörig fühlte. Die Tagebucheintragungen im Internet waren eine einzige Anklage der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihm erst jene Rolle des Verlierers aufzwangen, die er schließlich annahm.
Seine virtuell sorgfältig einstudierte Inszenierung hatte freilich den Rollentausch zum Ziel – als ob im performativen Vollzug der Gewalt ein radikaler Identitätswechsel stattfinden sollte, eine Art sozialer Neugeburt. Aus einem, der immer nur einstecken musste, wurde einer, der austeilt, aus dem ohnmächtigen Loser ein machtvoller Siegertyp, aus dem Schwachen ein Starker, der das Feld beherrschte. Mittels seiner in der Fantasie bereits durchchoreografierten Gewaltaktion korrigierte er das eigene Selbstbild, wie es ihm von seiner Umwelt entgegengehalten wurde.
Mein Vorschlag ist, das Tatgeschehen selbst genauer zu betrachten, um zu verstehen, was in solchen Verwandlungsstücken passiert. Vor einigen Jahren habe ich in den USA zahlreiche Fälle des dort grassierenden „Highschool Shooting“ untersucht. Es gehört zu jener neuen Kategorie von Verbrechen, die man dort als „Rampage-Killing“ und hier als „Amoklauf“ bezeichnet. Zur Typologie solcher Taten gehört, dass sie in der Regel einer aufgestauten Kränkungswut Ausdruck verschaffen; dass sie in aller Öffentlichkeit, manchmal sogar vor laufenden Kameras stattfinden; dass sich die Täter – übrigens fast ausschließlich aus der weißen Mittelklasse stammend, keine Schwarzen, keine Ghettokids – am Ende selbst umbringen oder im provozierten Polizeifeuer sterben; und dass – bewusst oder unbewusst – auf posthume Berühmtheit spekuliert wird.
Meine These war damals, dass solche entgleisten Formen reflexiver Identitätsbildung nicht auf Amerika beschränkt bleiben werden. Seither hat es in Westeuropa zwar einige Nachahmungstaten gegeben, aber ihre Zahl hat zum Glück statistisch nicht zugenommen. Dass wir es anders empfinden, ist ein Artefakt der medialen Hysterie, die nebenbei das Trittbrettfahren und Wichtigtun zu neuen Höhen treibt. Wahrscheinlich können wir gar nicht viel dagegen tun. Denn schon an ihrer szenischen Textur lässt sich ablesen, dass solche Praktiken der Selbstvergewisserung zum weitverbreiteten Genre des „Self-Design“ gehören.
Es geht um Aufmerksamkeit und Anerkennung, um das elementare Bedürfnis, gesehen zu werden, das in den Spiegelkabinetten postmoderner Lebenswelten unermüdlich nach Befriedigung sucht. Während aber auf den Alltagsbühnen des medialen Narzissmus die rohe Gewalt nur gelegentlich und am Rande aufblitzt, liefert sie hier buchstäblich den Stoff, aus dem sich Identität auf besondere Weise herstellen lässt: Ich hasse, also bin ich – aber erst in dem Augenblick, wo ich meinen Hass zum Ausdruck bringe und die entsetzte Welt daran teilhaben lasse!
Allerdings ist die Vorstellung, sich im Spiegel seiner Umwelt selbst zu entwerfen oder zu erfinden, ja neu zu erschaffen, nicht erst das Produkt der Postmoderne. Sie gehörte bereits zum mentalen Inventar der Romantik, genau wie die Idee von der identitätsstiftenden Kraft der Gewalt älteren Ursprungs ist. Im klassischen Revolutionsdiskurs galt die – kollektive – Gewalt bekanntlich als „Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“ (Friedrich Engels im „Anti-Dühring“), als „Werkzeug“ der sozialen Emanzipation, die aus Trümmern der Gesellschaft den neuen Menschen erwachsen lässt.
Auch bei Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“) wird der Kolonisierte vom Nichtmenschen – vom „kolonisierten ‚Ding‘ “, wie Sartre im Vorwort schreibt – zum Menschen erst durch den befreienden Akt der Gewaltausübung. Etwas von dieser subjektkonstituierenden Gewalt- und Befreiungsmetaphysik, die meine Generation nur zu gut kennt, scheint sich auch in das revolutionäre Heilsprogramm des totalitären Islamismus gerettet zu haben. Nun finden wir Reste davon in den rebellischen Köpfen amoklaufender Kids. MARTIN ALTMEYER