: „Niemand sollte mir mehr sagen können: ‚Das geht nicht!‘“
DIE AUSSTEIGERIN Maike Plath war Lehrerin an einer Schule in Neukölln. Dann kündigte sie ihren sicheren Beamtenjob und arbeitet seitdem als freischaffende Theaterpädagogin mit Jugendlichen, die als „schwierig“ gelten. Über den Wahnsinn des Systems Schule, warum starke Lehrer nicht unbedingt auch Führungspersönlichkeiten sind – und wie man sich als Provinzlerin nach dem ersten Arbeitstag an einer Berliner Hauptschule fühlt
■ Der Mensch Geboren wurde Maike Plath am 5. Dezember 1970 in Flensburg. Sie wuchs als große Schwester mit drei Brüdern in einer Lehrerfamilie auf. Von 1998 bis 2013 unterrichtete sie als Theater- und Deutschlehrerin Schülerinnen und Schüler bis Klasse 10 in Schleswig-Holstein und Berlin.
■ Die Pädagogin Auf der Basis ihrer langjährigen Theatererfahrungen mit Neuköllner Jugendlichen entwickelte sie einen partizipativen, methodischen Ansatz, der Jugendliche befähigen soll, künstlerische Prozesse eigenmächtig zu gestalten und ihre Themen in Form von biografischen Theaterproduktionen im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Ihr Buch „Partizipativer Theaterunterricht mit Jugendlichen“, erschienen 2014 im Beltz Verlag, ist eine von mehreren Publikationen zum Thema. Sie wird ab dem Herbst den Theaterunterricht der Quinoa-Schule im Wedding leiten, der bundesweit ersten Privatschule für „bildungsbenachteiligte“ Schüler.
■ Die Künsterin Plath arbeitet als künstlerische Leiterin der Jugendtheaterprojekte am Heimathafen Neukölln und ist im Vorstand des Vereins Mitspielgelegenheit e. V. Berlin, der Theaterprojekte an Schulen anbietet. (ale)
INTERVIEW ANNA LEHMANN
taz: Frau Plath, Sie haben Ihren sicheren Job als Beamtin zu Schuljahresbeginn gekündigt. Wann kam der Tag, an dem Sie sich sagten: „Ich muss hier raus!“?
Maike Plath: Das war 2009. Meine damalige Schulleiterin und ich, wir hatten einen Termin beim Schulamt und sollten unser Schulkonzept vorstellen.
Sie haben als Hauptschullehrerin im Rahmen des Deutschunterrichts damals jedes Jahr ein Theaterstück mit den Schülern herausgebracht.
Genau. Ich verfolge den Ansatz des partizipativen biografischen Theaterunterrichts. Der ist nicht zu verwechseln mit der guten, alten Theater-AG – sondern eine Form, den Unterricht aufzubrechen und den Jugendlichen ihre eigenen Potenziale aufzuzeigen.
Wie meinen Sie das – den Unterricht aufzubrechen?
Das muss man sich als handlungsorientierten Deutsch-, Geschichts- und Fremdsprachenunterricht denken. Wir haben zum Beispiel mit den Schülern der damaligen achten Klasse das Stück „Arab Queen und Thilo Sarrazin“ entwickelt und aufgeführt. In diesem Rahmen haben wir auch den Roman „Arab Queen“ von Güner Balci gelesen und diskutiert. Für viele war es übrigens das erste Buch, das sie gelesen haben.
Und dieses Konzept wollten Sie damals dem Schulamt erläutern?
Ja. Wir gingen dort sehr optimistisch hin. Es kam ganz anders. Die Schulaufsicht reagierte pikiert und extrem ablehnend: Was ich mir einbilde, „zu machen, was ich wolle“. Jetzt sei Schluss mit diesen Faxen. Ich sei nur eine ganz kleine Lehrerin, ich hätte Unterricht nach Vorschrift zu machen und sonst nichts.
Sie wurden so richtig abgekanzelt.
Ich habe den Raum verlassen und bin bis zum nächsten Gemüseladen gekommen. Dort bin ich dann zusammengebrochen.
Und Sie beschlossen, zu kündigen.
Ich habe gewusst, das ist ein entscheidender Moment: Kippe ich in eine Opferhaltung und verbittere – oder übernehme ich das Steuer? In den folgenden drei Jahren habe ich mir sehr genau überlegt, welche Alternativen ich habe, wie ich mir eine Selbständigkeit aufbauen und im Bereich Bildung produktiv sein kann. Niemand sollte mir mehr sagen können: „Das geht nicht.“ Jetzt kann ich das verwirklichen, was ich innerhalb von Schule nicht verwirklichen konnte.
Was ist das genau?
In der Schule wird immer mitgedacht, dass alles, was der Lehrer sagt oder tut, und auch das, was die Schüler tun, bewertet wird. Das verengt den Horizont enorm: eine Art Tunnelblick. In meinen Theaterprojekten mit den Jugendlichen verzichte ich hingegen komplett auf Bewertung.
Wir sind hier gerade im Heimathafen Neukölln, wo Sie kürzlich, als freischaffende Theaterpädagogin, mit jugendlichen Hauptschülern ein Stück über die Neuköllner Rütlischule auf die Bühne gebracht haben. Was hat Sie an dem Stoff gereizt?
Die Schüler waren alle nicht an der Rütlischule, aber sie kommen von ähnlichen Schulen. Die Rütlischule ist ein Symptom für alle diese Schulen, wo die Jugendlichen „Tohuwabohu“ machen. Die Schüler der Rütlischule wurden in der Berichterstattung über die Schule zu Gangstern stilisiert. Eine sehr vereinfachte Sichtweise.
Sie wollten also die wahre Geschichte der Rütlischule auf die Bühne bringen?
Das nicht. Es geht um die Sichtweise der Jugendlichen. Wenn es im Unterricht heißt: Hussein, nimm du erst mal das leichteste Arbeitsblatt – dann beschäftigt ihn das die ganze Woche: Warum muss ich das leichteste nehmen?
Was wollen Sie mit dem Stück bei einem wie Hussein erreichen?
Ich möchte Jugendlichen, die in der Öffentlichkeit vereinheitlicht als „verhaltensauffällig“, „unbeschulbar“ und „kriminell“ dargestellt wurden, Gehör verschaffen. Es geht mir darum, Jugendlichen Freiheit zu ermöglichen, indem sie wieder Selbstwertgefühl entwickeln – und zu sagen: Ihr müsst nicht nur reagieren, sondern auch agieren, und euch in der Gesellschaft Gehör verschaffen.
Klingt eher nach Therapie als nach Theatergruppe.
So würde ich es nicht nennen. Aber es geht bei künstlerischem Handeln auch darum, Empfindungen und Ansichten herauszuarbeiten und darzustellen.
Bevor Sie nach Berlin kamen, haben Sie an einer tollen Gesamtschule in Schleswig-Holstein unterrichtet. Von dort sind Sie an eine Hauptschule in Neukölln gegangen. Was haben Sie gesucht?
Irgendwann war es zu einfach. Als ich meinem Schulleiter damals sagte, ich brauche Veränderung, ich geh nach Berlin, lachte er und sagte: Er finde das richtig. Er riet mir nur, mein Konfliktpotenzial zu schärfen. Es würde hart werden.
Und, wurde es hart?
Ja. Für eine Hauptschule habe ich mich übrigens nicht bewusst entschieden. Es gab einfach keine anderen Jobs. Am letzten Ferientag rief mich die zuständige Schulrätin an und fragte, ob ich mir vorstellen könne, an eine Hauptschule in Neukölln zu gehen. Ich bekäme sofort einen Job. Da wolle keiner hin.
Interessant. Wie verlief Ihr erster Schultag?
Schrecklich. Nach acht Jahren als Lehrerin, in denen ich dachte, ich kann mein Handwerk, bin ich hier plötzlich komplett gescheitert. Ich stand in diesen Räumen, und alles ging drunter und drüber. Die Jugendlichen haben mich total verarscht. Ständig rief jemand: Frau Plath, kommen Sie doch mal zu mir! Inzwischen haben die anderen hinter meinem Rücken meine Sachen geklaut.
Die Lehrerin aus der beschaulichen Provinz in der Großstadt. Wie haben Sie reagiert?
Ich habe gesagt, wir gehen jetzt raus. Dann haben wir uns auf die Tischtennisplatten gesetzt und erst mal sehr viel geredet. Danach haben sie mir auch meine Sachen wiedergegeben.
Gab es an Hauptschulen damals schon das Fach Theater?
Nein, aber damals hieß es von oben noch: Sie können machen, was Sie wollen, die Hauptschulen gehen sowieso unter. Und wenn Sie etwas finden, das Erfolg hat, machen Sie es. Hauptsache, der Deckel bleibt drauf und nichts dringt an die Öffentlichkeit.
Das war 2004, zwei Jahre vor dem öffentlichen Brandbrief von Lehrern der Rütlischule. Damals verteidigte selbst die SPD noch das Konzept Hauptschule.
Aber in der Praxis war sie längst gescheitert. Deshalb durften Berliner Lehrer auch nicht mit der Presse sprechen. Es sollte nichts nach außen dringen.
Am Ende haben die Lehrer an der Rütlischule doch die Öffentlichkeit um Hilfe gerufen.
Die Lehrer hatten wenig Handlungsmöglichkeiten: Das Grundproblem war wohl, dass sie die Schulstruktur nicht ändern konnten. Und dass Lehrer oft nicht so eingesetzt werden, wie sie es sich selbst wünschen und wo sie dann auch motiviert sind. Aber auch vom autoritären Ton und einer latent überheblichen Haltung vieler Lehrer fühlen sich insbesondere die arabischen Jugendlichen oft angegriffen. Nach zehn Jahren in Neukölln glaube ich, dass man Strenge mit einem echten Interesse am Menschen verbinden muss. „Fack ju Göhte“ ist ein gutes Beispiel dafür.
Ach, die Komödie, in der es an einer Münchner Gesamtschule drunter und drüber geht. Die ist lustig – aber beispielhaft?
Ja, klamaukig – aber auch aufschlussreich. Das klügste an „Fack ju Göhte“ waren die Demütigungssituationen im Klassenraum: ein Eimer mit Pech, der auf den Lehrer fällt.
Ist Ihnen so etwas mal passiert?
Nein, das ist natürlich völlig überzeichnet. Aber der Film schafft etwas Besonderes. Er zeigt auch die Innenansicht des Lehrers im Klassenraum. Der Moment, wo man als Lehrer so einsam ist, den Tränen nah und man weiß: Niemand hilft dir. Man kann es niemandem erzählen, denn wenn man es erzählt, ist man gescheitert. Der Film zeigt, dass Jugendliche starke Lehrer wollen. Sie wollen ihre Lehrer lieben.
Das klingt so, als müssten Lehrer charismatische Führungspersonen sein.
Ich mache doch das Gegenteil. Ich habe einen partizipativen Ansatz: Ich gebe die Rolle ab. Ich sage: „Ich bin gespannt auf dich.“
Sie gehen mit den Schülern auf Augenhöhe. Aber angesichts von immer wieder aufkommenden Missbrauchsdebatten – Stichwort Odenwaldschule – gibt es Stimmen, die mehr Distanz fordern. Wie viel Nähe darf sein zwischen Lehrer und Schülern?
Es kann gar nicht zu viel Nähe geben. Und damit meine ich: Es kann nicht zu viel Interesse für einen anderen Menschen geben. Der Lehrer muss ein Dienstleistender am Schüler sein. Als Odysseus in den Trojanischen Krieg ziehen musste, vertraute er seinen kleinen Sohn Telemachos seinem besten Freund an. Und dieser Freund hieß Mentor. Lehrer sind nach meiner Überzeugung Mentoren des Lebens.
Warum sind Sie Lehrerin geworden?
Mein Vater war Musiklehrer und an meiner Schule total hip. Sein Unterricht war spannend und aktiv, man ist ständig aufgestanden, hat selbst Instrumente und Stücke mitgebracht, gespielt und analysiert. Die Initialzündung war aber ein Job für eine Sprachreisenfirma. Ich war mit ziemlich schwierigen Jugendlichen in England unterwegs, da war die ganze Zeit Tohuwabohu. Wie schön! Und da dachte ich, Lehrer ist ein toller Beruf, man kann viel gestalten.
Was heißt das für Sie?
Ich will die Schüler zum Leuchten bringen und dahin, sich anzustrengen und etwas zu lernen.
Oha. Aber wie viele denken so?
Es gibt viele unfassbar gute Lehrer, die aber häufig in ihrem Engagement behindert werden. Es gibt auch den Typus, der einfach nur auf die Pensionierung wartet oder sich krank meldet. Es sind aber eigentlich diejenigen, die etwas wollen und den Schülern sehr zugewandt sind, die durch unser System Burn-out-gefährdet sind.
Zu viel Arbeit?
Zu wenig Wertschätzung.
Wie bei Ihnen?
Von den Schülern habe ich viel Wertschätzung erlebt. Meine ganze Antriebskraft kommt daher. Aber die Nummer mit der Schulaufsicht machte mir klar, wenn ich im System Schule etwas bewegen will, muss ich mir eine andere Position erarbeiten.
Warum sind Sie dann nicht Schulleiterin geworden?
Vielleicht in einem anderen Bundesland, aber nicht in Berlin. Hier herrscht noch der preußische Geist, die Gestaltungsmöglichkeiten als Schulleiterin sind begrenzt.
In anderen Bundesländern ist man liberaler?
Ja, doch. In Bayern zum Beispiel.
Interessant.
Nicht wahr? Ich bin ja viel dort unterwegs und ich habe das Gefühl, man ist behäbiger, aber auch konstruktiver. Die Schulen haben eine ganz andere Art mit Heterogenität umzugehen. Lehrer bekommen nicht gleich einen Herzinfarkt, wenn es um jahrgangsübergreifendes Lernen geht. Es gibt weniger Empörung.
Sie sind doch auch empört!
Nein ich finde es tragisch. Interessant, Sie hören Empörung?
Ja. Über die starren Strukturen und über die Grenzen, an die Sie gestoßen sind. Kann man sinnvolle Arbeit nur außerhalb der Schule machen?
Nein, so ist das auf keinen Fall zu verstehen. Es gibt viele tolle Schulen, ich war ja selber an einer. Ich könnte ja auch jetzt an eine tolle Schule gehen.
Warum tun Sie es nicht?
Ich möchte nicht an ein Gymnasium, wo alles gut ist. Weil ich da sein will, wo die Jugendlichen sind, die bisher noch unter dem System leiden.
Haben Ihre Eltern, die beide Lehrer sind, Sie eigentlich verstanden, als Sie dafür Ihre Verbeamtung aufgaben?
Jetzt unterstützen sie mich natürlich. Aber damals sagte meine Mutter spontan: Jetzt ist das Mädchen schon 43 und macht noch solche Faxen.