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Archiv-Artikel

Göttlicher Mund

„Jauchzet, frohlocket …“: Ein kleiner Band mit Weihnachtsliedern enthält den Überbau des größten Familien- und Konsumfestes

Die meisten Sachen kennt man natürlich. Auch erhebt dieses kleine blaue Büchlein mit dem musizierenden Engel auf dem Cover keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber: Der Überbau von Weihnachten – dieses größten Familien-, Kauf-, Fress- und Innigkeitsfestes – ist ja vor allem in den Liedern formuliert. Dieses Büchlein sammelt 53 Stück von ihnen, mit Noten. Ein hübscher Kanon der Innerlichkeit.

Auf einem Dutzend Seiten findet sich so ganz nebenbei das Amalgam, das sich zum so massiven Phänomen Weihnachten verschmolzen hat. Seite 94/95, „Stille Nacht, heilige Nacht“, Text: Josef Mohr, Melodie: Franz Grube, Strophe 3 – „Gottes Sohn, o wie lacht / Lieb’ aus deinem göttlichen Mund, / da uns schlägt die rettende Stund’, / Christ, in deiner Geburt.“ O wie lacht! Etwas überdeutlich, die doppelte Erwähnung der Göttlichkeit, aber sonst ein einleuchtendes Bild für eingelöste Erlösungshoffnung: Liebe lacht aus dem Mund eines Kindes im Augenblick der Rettung. Nur: Rettung woraus? Das Wissen darum konnte im 18. und 19. Jahrhundert, in denen die meisten Lieder entstanden, vorausgesetzt werden. Nur ein Lied formuliert es ausdrücklich: „Heiligste Nacht“, Text, Melodie: unbekannt, Strophe 2 – „Göttlicher Heiland, der Christenheit Haupt, / was uns der Sündenfall Adams geraubt, / schenket uns deine Huld, / sie tilgt die Sündenschuld / jedem, der glaubt, jedem, der glaubt.“ Die gute, alte Lehre von der Erbsünde also, für den Nicht-Kirchenbesucher taucht sie nur noch in diesen Weihnachtsliedern auf. Überhaupt hat die Erlösungsbedürftigkeit in unserer Wohlstandsgesellschaft an Evidenz eingebüßt. In den früheren Notgesellschaften (in den „Buddenbrooks“ finden sich in der großen Weihnachtsszene ganz selbstverständlich die „Hausarmen“ ein) schwangen in weihnachtlichen Überflusszeremonien viel stärkere Dankbarkeits- und Rettungsgefühle mit.

Dann aber! Seite 100/101, „Fröhliche Weihnacht überall“, Text: Hoffmann von Fallersleben, Melodie: aus England, 19. Jahrhundert – in diesen lustig hüpfenden Achtelnoten am Anfang drückt sich schiere Freude aus, und dann: „Weihnachtston, Weihnachtsbaum, / Weihnachtsduft in jedem Raum!“ Das reine Spektakel. Und ein Ausrufezeichen zur Verstärkung! Diese Lust an Lichtern in dunkler Nacht, an Zeichen der Zivilisation in kalter Zeit – auch das ist natürlich Weihnachten. Wer braucht da noch Erlösung? Und ein gehöriger Schuss Naturmystik spielt auch mit: Seiten 104/105, „O Tannenbaum“, Text: August Zarnack und Ernst Anschütz, Melodie: Volksweise aus dem 18. Jahrhundert, Strophe 3 – „O Tannenbaum, o Tannenbaum, / dein Kleid will mich was lehren: / Die Hoffnung und Beständigkeit / gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit.“ Trost gibt die Natur (nicht Gott), und die Freude am Spektakel lässt die Erlösungssemantik manchmal hinter sich: ein (innerwestlicher) Kampf der Kulturen – der religiösen und der profanen Kultur –, das ist Weihnachten. Ist es schon lange, wie die Lieder zeigen. Falls Menschen aus anderen Kulturkreisen fragen, was dies Fest genau bedeutet: keine schlechte Idee, mit ihnen dieses Büchlein durchzuschauen.

Mitsingen kann man die Lieder natürlich auch. DIRK KNIPPHALS

„Jauchzet, frohlocket …“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 128 Seiten, 8 Euro