: Nichts ist umsonst
JETSET AUSSTELLUNG Von der sozialen Landschaft über die Abstraktion in die Biografie: In Frankfurt wurde eine weitere Retro für Felix Gonzalez-Torres eingeleuchtet. Sie ist nur ein Puzzlestein der Werkschau, die am Ende weltweit aus sechs Teilen resultiert
VON ULF ERDMANN ZIEGLER
Die Wiederentdeckung von Felix Gonzalez-Torres findet alle fünf Jahre statt, sodass man mit gutem Gewissen sagen kann, der Künstler sei seit seinem Tod im Jahr 1996 nie vergessen worden. Dieses – nicht vergessen zu werden – war es wohl, was ihn antrieb, innerhalb eines Jahrzehnts ein Werk hervorzubringen, einen Bausatz von Objekten, Ideen, Strategien, Formen und Regeln; jetzt als Nachlass von einer New Yorker Stiftung betreut. Von seinen kubanischen Eltern mit vierzehn Jahren, begleitet von einer Schwester, über Spanien nach Puerto Rico in die Emigration geschickt, kam er 1979 nach New York, pünktlich, um auf die Paraden der Schwulenbewegung aufzuspringen, aber zu früh, um vom HI-Virus zu wissen. Es ist nicht ganz klar, wann er selbst krank wurde; tatsächlich hielt er es anders als die Community und machte seinen Zustand nicht öffentlich. Und es gibt viele andere Dinge, in denen er dem Zeitgeist nicht gefolgt ist.
Markenzeichen seines Werks sind zum einen Glühbirnenlichterketten, die als Girlanden, Stalaktiten und Cluster präsentiert werden können, zum anderen kiloweise Bonbons, die als Haufen oder aufgefüllte Ecken daherkommen. Dabei schmücken die Lichter die Haufen und die Haufen die Lichter.
Man kann gewiss nicht bestreiten, dass Gonzalez-Torres die amerikanischen Minimalisten verehrt hat, die Anleihen sind offensichtlich. Diese hatten sich zu ihrer großen Zeit, 1967, eine Feier des Materials um seiner selbst willen vorwerfen lassen müssen, die Michael Fried als „objecthood“ geißelte. Bei Gonzalez-Torres spürt man den Einfluss Mittel- und Südamerikas, wo die Abstraktion, die kühne Setzung des Werks im Raum ohne viel Ideologie rezipiert worden ist, ja geradezu zur Volkskunst gehört.
Sein Wunsch, eine Kunst für alle zu machen, äußert sich auch darin, dass man die Arbeiten teilweise mitnehmen darf, nämlich die Bonbons der „Candy“-Skulpturen und Drucke, die als Stapel und Türme im Ausstellungsraum stehen. Man kann sich einen Druck rollen und ihn davontragen. Das ausstellende Museum lizensiert bei den Leihgebern nicht das Objekt als solches, sondern Methode und Bildhaftigkeit. Das hat ihn zum Liebling einer Generation von Kurator(inn)en werden lassen, die in der Kunst „das Prozesshafte“ suchen; die fest davon überzeugt sind, dass die museale Ordnung im Kern repressiv und deshalb jenen Künstlern der Vorzug zu geben sei, deren Werk sich als „Institutionskritik“ argumentativ einbinden lässt.
Die Retrospektive wurde angestoßen von einer Brüsseler Kunsthalle mit dem Namen Wiels, reiste dann zur Beyeler Foundation (bei Lörrach) und wurde jetzt im Frankfurter MMK eröffnet. Konzipiert von Elena Filipovic, 1972 geboren in Kalifornien, keine Unbekannte als Kokuratorin der Berlinbiennale 2008, kommt die Ausstellung nicht drei-, sondern sechsteilig daher: Auf jeder Station kuratiert zunächst ein Kurator (in Frankfurt: sie selbst), später wird die Ausstellung einem Künstler zur Neuinszenierung überlassen. Hier ist es Tino Sehgal (ab 18. März). Dabei darf sowohl aus dem Fundus ausgepackt wie auch eingepackt werden; selbst eine Anlieferung weiterer Leihgaben ist möglich. Sämtliche sechs Teile werden letztendlich in einem Katalog dokumentiert (den es also jetzt noch nicht gibt) – und alle Stationen zusammen bilden dann die „Retrospektive“.
Insofern kann man der Ausstellung, wie sie jetzt eingerichtet ist, nicht mit den üblichen Fragezeichen kommen, zum Beispiel, ob Hauptwerke fehlen. Mir fehlt zwar das erleuchtete Podest, auf dem ein männlicher Tänzer exponiert wird, ein lebender: Das Werk, also eine Performance, war im MMK in einer Kittelmann-Ausstellung zu sehen gewesen, ein befremdliches Erlebnis. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass Sehgal, der auf Choreografien spezialisiert ist, es sich nicht nehmen lassen wird, das Werk wiederauferstehen zu lassen, vielleicht sogar mehrfach, ein Kultgefängnis schwuler Eitelkeiten?
Dennoch muss die Frage gestellt werden, an wen sich ein solches Retro-Vorhaben richtet. Die Ausstellung in sechs Teilen wird ausgegeben als Inbegriff der Beweglichkeit, meint aber nur die Beweglichkeit der Cogniscendi, der Profis, der Kunstmarktkosmopoliten. Für sie ist ein solches Konzept ideal, weil es ihnen die Gesamtschau als Herrschaftswissen zuführt. Was Filipovic sich da ausgedacht hat, ist sehr schön, vor allem für sie selbst.
Der Sprachkonzeptualist Lawrence Weiner hat über das Werk von Gonzalez-Torres gesagt: „specific objects without specific form“. Das ist ein Irrtum. Es kommt nicht darauf an, wer die Bonbonhaufen schüttet, aber wehe, sie seien nicht, wie der unglaubliche Lakritzhügel im Atrium des Museums, der Exzellenz der Form geschuldet. Merkwürdigerweise hat man Weiners verqueres Bonmot zum Titel der Ausstellung gemacht und auf Englisch belassen. Seit Susanne Gaensheimer am MMK Direktorin ist, haben alle Ausstellungen englische Titel, eine vornehme Art, den Bürgern der Stadt auf riesigen Transparenten an der Museumsfassade mitzuteilen, dass die Kunst dieses Museums sich an ferne Eliten richtet.
Man wüsste eigentlich gern, wer das war: Ein in die „Freiheit“ verstoßenes Kind; ein amerikanischer Immigrant und Patriot; ein Künstler, der seine Form sucht, während die neuen Freunde um ihn herum sterben. Interessant, dass er seine Tätigkeit als „gesellschaftliche Landschaft“ (social landscape) bezeichnet hat, das Sujet der Fotografie der 60er Jahre, die die Fixierung auf das Menschenbild eingetauscht hatte gegen eine komplexere und dingbezogene Bildsprache, später noch kühler weiterentwickelt als Neue Topografie. Das macht Gonzales-Torres auch: Er überhöht die Dingwelt und reduziert das Menschenbild, nämlich auf zitierte Fotografien, die in Form kleiner Puzzles in verdächtigen Plastikfolien, als Wandbilder, auftauchen: Kinder mit Mickey-Mouse-Masken auf einer Party; Lover am Strand; Klaus Barbie mit Familie. Wie bitte?!
Mit einer recht blumigen Einführung in das Werk versucht sich Chefkurator Mario Kramer: „Blut ist unser Lebenselixier, sag ich mal.“ Was am Werk so schwer zu fassen bleibt, ist das Verhältnis von großer Geste und biografischer Schüchternheit. Auf einem Textfries, der weit oben unter der Decke, datiert, herumläuft, werden uns unbekannte Vergnügen und Erste-Mals seit 1978 mit der Weltgeschichte verschnitten; das Modell geht zurück auf Allen Ginsberg und sein Heulen, das Bekenntnis bei G-T nur noch Telegramm.
Der Bonbonteppich, der im magischen Raum des Holleinmuseums ausgelegt ist – dem spitzen – ergibt ein kleinteiliges Raster in Rot, Weiß und Blau, nicht weniger als eine Travestie des Symbols der Nation, in der sich der Kubaner wiederfand, umstellt von ehrsüchtigen Puritanern, durchgeknallten Waffenhelden und präfaschistischen Schwulenhassern. Museumsmann Kramer wundert sich, „dass meine Schüler heute nicht mehr wissen, wer Anita Bryant und Jesse Helms waren“. Ich dachte nur: zum Glück! Vergessen, das Gesindel.
Erstmals auf Gonzalez-Torres gestoßen bin ich vor 21 Jahren, für die taz, im Berliner Bahnhof Westend, damals ein toter Bahnhof an einer nicht betriebenen Ringbahn. Die NGBK hatte dort eine große, vertrackte Ausstellung zum Thema HIV und AIDS installiert, „Vollbild“. Dort gefiel mir „eine höchst merkwürdige Assemblage primitivst gebastelter, krude an die Wand genagelter Objekte der New Yorker Group Material, die einen anschweigen …“. Der Exilkubaner hatte sich kaum zwei Jahre zuvor dieser Formation angeschlossen. Diese freie, abstrakte Arbeit zu einem menschlich zentralen, politisch umkämpften Thema trug bereits seine Handschrift.
Aufschlussreicher als die biografischen Telegramme sind zwei Arbeiten, die mit Monumenten zu tun haben. Das eine besteht aus zwei fotografischen Puzzles, wovon eines den Künstler als 14-Jährigen im Strickpullover zeigt, frontal in Madrid. Das andere Bild zeigt ein Kriegsheldenmonument in steiler Untersicht. So montiert, gibt es nur einen Schluss: Der 30-Jährige fragte sich nach vergangenen Träumen eigener zukünftiger Größe.
Die andere Arbeit besteht aus zwölf tiefgrauen, präzisen Fotografien, die die Inschriften um das Roosevelt-Denkmal vor dem Natural History Museum auf Manhattan studieren. Sie preisen den Teddypräsidenten als „Patrioten“, „Historiker“, „Autor“, „Forscher“, „Staatsmann“ (etc.), Versalien in Stein gehauen. Das Reitermonument zeigt der Konzeptfotograf nicht; nur die monumentalen Zuschreibungen. Man könnte sagen, es wäre zynisch gemeint gewesen. Aber vielleicht ist es andersherum, und der glückliche Felix aus Kuba hat sich gefragt, was man in Amerika noch alles werden kann.
Irgendwie war ich mit der Kuratorin Filipovic ins Gespräch gekommen, und wir nahmen den Aufzug im MMK. Sie meinte, wir sollten mal ins Restaurant, da gebe es jetzt ein Mittagessen für alle. Und nachdem wir dort hineingeschaut hatten, zog sie den knallharten Schluss (ein amerikanisches Sprichwort): „There is no such thing as a free lunch.“
■ Bis 25. April, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main