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Archiv-Artikel

Großes Kino auf der Kippe

Das Wall-Kino in Oldenburg ist das älteste noch betriebene Kino in Norddeutschland. Nun hat der Hamburger Unternehmer Ulrich Marseille das Kino geerbt und dem bisherigen Betreiber gekündigt. Ob das Wall-Kino weiterhin ein Kino bleibt, ist äußerst ungewiss

Die Teppiche im kleinen Foyer des Wall-Kinos in Oldenburg sind schwer und schlucken die Geräusche der Hauptverkehrsstraße draußen. In einem kleinen Kiosk sitzt die Kartenverkäuferin. Links warten schon Leute auf den Einlass, die Zugänge sind noch mit Kordeln an goldenen Ständern verstellt. Über zwei geschwungene Treppen kommt man in den oberen Saal, alles ist rot ausgekleidet, eine hohe Kuppel erstreckt sich über den langen Reihen schwerer Sessel. Ganz hinten sind exklusive Kabäuschen, die Logen. Gelegen ist dieses Kino mit seiner 1920er-Jahre-Atmosphäre zwischen hässlichen Bauten an der Hauptverkehrsstraße mitten in der Oldenburger Innenstadt. 1914 erbaut, ist das Wall-Kino das älteste noch betriebene Kino in Norddeutschland.

Vor rund zehn Jahren pachtete der Betreiber des Oldenburger Casablanca-Programmkinos Detlef Roßmann das Wall-Kino und verhalf ihm zu dem Glanz, in dem es heute erstrahlt. Die Konkurrenz der damals entstehenden Multiplex-Kinocenter spornte Roßmann an: Er ließ die alte Fassade restaurieren, stattete die zwei großen Säle mit neuer Digitalton-Technik und bequemer Bestuhlung aus und machte anspruchsvolles Programmkino. Auch das Internationale Filmfest Oldenburg hielt im Wallkino nun mondäne Eröffnungsgalen ab, einen besseren Platz gab es in Oldenburg nicht.

Das alles scheint nun vorbei zu sein: Detlef Roßmann teilte mit, er müsse aufgrund einer Kündigung durch den Eigentümer den Betrieb im April einstellen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Oldenburg um ein großes Stück Kinotradition ärmer würde – erst im vergangenen Jahr war das kleine MuWi-Kino, ein Relikt aus den fünfziger Jahren, zu Erbmasse geworden.

Das Gebäude des Wall-Kinos erbte erst kürzlich Ulrich Marseille aus Hamburg von seiner Adoptivmutter. Laut Roßmann flatterte die Kündigung schon wenige Tage nach der Eintragung des neuen Besitzers im Grundbuch auf seinen Schreibtisch. Das Schreiben ende mit dem Hinweis, Verhandlungen über diese Kündigung seien ausgeschlossen, so Roßmann zur taz.

Marseille ist kein Unbekannter. Seine Familie besitzt die Mehrheit am Klinikimperium Marseille Kliniken AG, er selbst ist Aufsichtsratsvorsitzender. Im Jahr 2001 trat der Unternehmer der Schill-Partei bei, im Jahr darauf trat er als ihr Spitzenkandidat in Sachsen-Anhalt an.

Wie Marseilles Pläne für das Gebäude aussehen, ist unbekannt. Roßmann kündigte an, er werde die langen Reihen gemütlicher Sitze, die großen Leinwände und die Projektortechnik vollständig mitnehmen und Marseille Ende April ein besenreines aber leeres Gebäude übergeben. Dementsprechend hoch wären die Kosten, in dem Gebäude wieder ein Kino einzurichten.

Das Wall-Kino wurde seinem Zweck bislang nie entfremdet. Im September 1914 wurde es eröffnet, 750 Zuschauer fanden darin Platz. Damals starteten gleich mehrere Kinos in Oldenburg – das Wall aber ist das einzige, das bis heute überlebt hat.

Von außen sah es aus wie ein Theater, von innen auch: Der Kinosaal hatte ein ebenerdiges Parkett und einen amphitheaterartig aufsteigenden Rang, über allem thronten die Loge. Den Krieg überstand das Haus unbeschadet, ab 1948 wurde es wieder als Kino genutzt. Die Betreiber gingen mit der Zeit: Ende der Fünfziger wurde auf Cinemascope aufgerüstet. In den Sechzigern brummte das beliebte Innenstadtkino. Bis zu dreißig wöchentliche Vorstellungen wurden gegeben, das Programm war breit, für jede Zielgruppe sollte etwas dabei sein.

Beinahe fünfzig Jahre lang war das Kino im Besitz der Familie Mertens-Rösser, Ende der Sechziger wurde es an den Bremerhavener Kinounternehmer Theo Marseille verkauft, den Adoptivvater des heutigen Besitzers. Er ließ zwischen Parkett und Rang eine Zwischendecke einziehen und machte aus dem großen, hohen Saal ein Kinocenter mit zwei Sälen, dem Wall mit rund 400 Plätzen und dem Cinema mit rund 330 Plätzen. Die Zuckerbäckerfassade war fortan hinter einer Aluverkleidung versteckt. Er strich die Lichtspiele aus dem Namen, als Wall-Kino wurde das Haus im Juli 1970 mit dem Film „Wir hau’n die Pauker in die Pfanne“ wiedereröffnet.

Roßmann brachte Mitte der Neunziger den alten Glanz zurück, in Zusammenarbeit mit der Witwe von Theo Marseille. Im vergangenen Jahr kündigten die Veranstalter des Filmfestes aufgrund finanzieller Streitigkeiten die Zusammenarbeit auf und hielten ihre Eröffnung im Staatstheater ab. Wie es nun aussieht, werden sie diesen Entschluss nicht mehr rückgängig machen können. JAN KÜHNEMUND