: Indie geht in die Binsen
Wenn am Freitag die neue Platte der Shins erscheint, werden wieder alle über die „Könige des Indie-Pop“ jubeln. Trotzdem kann uns niemand genau erklären, was mit „Indie“ gemeint ist. Warum eigentlich nicht?
von ARNO FRANK
Der Typ hier auf dem Foto nebenan sieht so aus, als könne er „das kompletteste und berührendste Indie-Pop-Album der letzten paar Jahre“ (Spiegel) verdammt gut gebrauchen. „Wincing The Night Away“ von den schönen Shins erscheint für Normalsterbliche erst am kommenden Freitag – auf dem legendären Nirvana-Label „Sub Pop“, versteht sich. Wenn der Typ auf dem Foto nebenan auf gute Musik steht, sich vielleicht sogar zu den „Indie“-People rechnet, wird er es lieben. Hassen aber wird er es, wenn er ein „Indie-Nazi“ ist – weil The-Shins-Chef James Mercer die „Indie“-Erbsünde begangen hat, einen seiner guten Songs an die böse Wirtschaft zu verhökern. An McDonald’s. Denn „Indie“ kommt von „independent“ und bedeutet, immer irgendwie „auf der richtigen Seite“ zu stehen, eben unabhängig zu sein, wovon auch immer.
Denn heute kann sich jeder in seine „Indie-Klamotten“ vom Flohmarkt werfen, schnell noch die „Indie-Sneaker“ von Chuck Taylor zubinden und die „Indie-Pilotenbrille“ aufsetzen, bevor er seine „Indie“-Playlist auf dem iPod anwählt, die „Indie“-Umhängetasche aus Lastwagenplanengummi umhängt und zum angesagten „Indie-Coiffeur“ radelt, wo er sich nur schnell noch seine asymmetrische Indie-Frisur“ auffrischen lässt, bevor er sich an der Kinokasse um Tickets für die „Indie-Filme“ auf der Berlinale anstellt, die er später für „so ’n Indie-Blog-Projekt“ rezensieren wird.
Vielleicht liegt es ja daran, dass niemand genau erklären kann oder will, was „Indie“ eigentlich bedeutet. Wofür eigentlich steht, wer sich als „Indie“ bezeichnet. Wo „Indie“ anfängt und wo es aufhört. Nicht einmal die Künstler, die durch ihr Wirken das Wort „Indie“ erst mit dieser eigentümlichen Strahlkraft aufgeladen haben, der es seinen Boom verdankt. Die Frage danach hat sich schon oft als heikel erwiesen – bei fast allen Musikern, die wir damals gefragt haben: Noel Gallagher von Oasis brach in schallendes Gelächter aus. Alan McGee dagegen, Label-Chef und Entdecker von Oasis, brach das Interview auf der Stelle ab. Michael Stipe von R.E.M. seufzte und setzte sein melancholischstes Gesicht auf, als spähe er direkt in eine glücklichere Vergangenheit. Mike Skinner von The Streets blickte auf seine neonfarbenen Nike-Turnschuhe und witterte eine Falle. Und die netten Jungs von Nada Surf, eben noch lustig, drucksten auf einmal merkwürdig herum und hatten es plötzlich eilig.
Warum, das haben wir erst verstanden, als ein paar Wochen später in der Fernsehwerbung für einen Kleinwagen von Suzuki das Riff aus dem Nada-Surf-Song „Blankest Year“ ertönte– extrem uncool. Sich für die Werbung hinzugeben, die eigene, ohnehin diffuse Glaubwürdigkeit zu Markte zu tragen, das gehört zu den wenigen echten Ausschlusskriterien, das ist definitiv „out“ – zumindest in der deutschen „Indie“-Szene, die, so heterogen sie auch sein mag, in dieser Frage keinen Spaß versteht. Entsprechend lebhaft gerät die Legendenbildung im umgekehrten Fall. The Notwist, einer der innovativsten und wichtigsten deutschen Gruppen unserer Zeit, soll die Telekom 1 Million Euro geboten haben, nur um ein paar Takte aus deren Song „Pick Up The Phone“ in der TV-Werbung verwenden zu dürfen. Dass die Band ablehnte, hat ihren Kurs in „Indie-Kreisen“ noch weiter steigen lassen. Weil sich da jemand, stellvertretend für uns, einmal nicht mit dem System und seinen Produktionsbedingungen gemein gemacht hat. Denn wenn sich über „Indie“ Konkretes sagen lässt, dann ist es dessen Ursprung in einer Musik, die abseits der „großen vier“ Plattenfirmen, im Schrebergärtlein eines unabhängigen Labels sich entwickelt hat.
Vielleicht war Alan McGee deswegen so gereizt, als wir ihn nach seiner Auffassung von „Indie“ befragten. Stolz erzählte er in seinem sperrigen schottischen Dialekt davon, wie er für sein Label „Creation Records“ eine unbekannte Band namens Oasis unter Vertrag genommen hatte. Damals, als Großbritannien noch von einem „konservativen Schnösel“ namens John Mayor regiert wurde; er schilderte, wie sich „What’s The Story …“ zum bestverkauften Britpop-Album der Neunzigerjahre mauserte; er rieb seine Arbeitshände, als er sich erinnerte, wie der Labour-Kandidat Tony Blair zusammen mit Oasis die Tories stürzte, damals, zu Zeiten von „cool britannia“, die Einladung zur Party anlässlich der Amtseinführung des jungen neuen Premiers aber hatte McGee bereits ausgeschlagen. Witterte er, dass da etwas schrecklich schieflief? Statt einer Antwort blaffte er nur: „Am Arsch!“. Sein kleines „Indie-Label“, das über Nacht überlebensgroß geworden war, verkaufte er 2000 zusammen mit der Last seiner richtigen, linken Überzeugungen. An einen „bösen Major“, an Sony.
Noel Gallagher allerdings ist hingegangen, als er in die Downing Str. 10 gebeten wurde. Aber natürlich habe er sich mit Tony Blair abknipsen lassen! Und lustige Kokainwitze hätten sie gerissen! „An dieses ganze Independent-Ding habe ich eh nie geglaubt“, sagte er im Gespräch mit der taz: „Das einzige Ding, an das ich geglaubt habe, war mein eigenes.“ Vom „do it yourself“- und „underdog“-Stolz war da nur noch die Befriedigung geblieben, dass er es tatsächlich mit eigenen Händen ganz nach oben geschafft hatte. Der Rest? „Ach, scheiß doch drauf!“ Wirklich bekommen ist das der Karriere von Oasis nicht. Und auch nicht dem Indie-Gedanken, der, einmal im Bett mit dem Establishment erwischt, zumindest in England für einige Jahre abgemeldet blieb.
Überhaupt steht der Beweis noch aus, dass eine Karriere unter Umgehung der klassischen, vom Kapital kontrollierten Vertriebswege langfristig möglich ist. Endziel vieler Musiker bleibt nach wie vor ein „Major-Deal“ und die damit verbundenen Annehmlichkeiten. Ein aus eigener Tasche vorproduziertes Album kann, wenn es ins Netz gestellt wird, auch zur fürchterlichen Pleite für alle Beteiligten werden. Indie-Labels bieten in der Regel je nach Finanzlage und Künstler Vorschüsse von 4.000 bis 100.000 Euro. Bei einem Major dagegen winken schon mal bis zu 300.000 Euro. Schwer, da zu widerstehen.
Überhaupt erinnern viele angebliche „Indie“-Karrieren bei näherem Hinsehen immer häufiger an die Erfolgsgeschichten hemdsärmeliger Unternehmer. Mike Skinner, der mit seinen im Wohnzimmer zusammengebastelten Hits wie „Let’s Push Things Forward“ dem britischen Hiphop zu weltweiter Geltung verholfen hatte, war schon mit dem zweiten Album nicht nur bei einem Major, sondern auch bei Nike unter Vertrag –der beinhaltete, dass er sogar bei Interviews die dämlichen Turnschuhe des Multis tragen musste. Okay, er durfte sie selbst „designen“, hatte damit aber auch seinen „Indie-Bonus“ erfolgreich in ein kleines Ein-Mann-Unternehmen umgemünzt: „Meine Freunde gönnen mir das“, sagte er: „Wirklich übel nehmen mir das nur die Indie-Nazis.“
Ja, „Nazis“. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet ein verdeckt totalitäres Individualisierungsversprechen wie das „Indietum“ der westlichen Welt bei der Bezeichnung derer, die dabei über das Ziel hinausschießen, auf die totalitären Erzbösewichte aus Deutschland zurückgreift. Der „Indie-Nazi“ ist ein feststehender Begriff für all jene Gesinnungspolizisten geworden, die allzu stark die Distinktion betonen –und immer genau zu wissen vorgeben, was alles nicht „Indie“ ist.
Und so irrlichtert der arme Begriff quer durch alle Zentren, Zeiten und Genres der Populärkultur – und ist doch nie fehl am Platz. Gerade jene Musiker, die jede Einordnung in Schubladen scheuen, hüpfen freiwillig und fröhlich in die große Grabbelkiste namens „Indie“. Sogar Michael Stipe von R.E.M., der in den Achtzigerjahren eifrig an dieser Kiste mitgezimmert hat: „Heute staune ich, wie sehr wir in den Achtzigern manchmal nach Velvet Underground klangen, in denen sich etwas Ähnliches schon Ende der Sechziger artikulierte. Wer will, kann das Indie nennen.“
„Indie“ zu sein bedeutet, sich in einem immer weiter wuchernden Geflecht spezieller Zeichen und Codes bestens zurechtzufinden. Paradoxerweise hat der Begriff als konkrete Chiffre für ein vages Lebensgefühl in den vergangenen Jahren eine Karriere hingelegt, die nur noch mit der des Pop zu vergleichen und längst, ebenso wie der Pop, in den Mainstream gemündet und damit in den Kosmos modischer Zeichen transzendiert ist. Übrig bleibt als armseliger Rest die schicke Lüge, genau das zu sein, was heute in Wahrheit absolut niemand mehr sein kann: unabhängig.
Oder, um es mit James Mercer von den Shins zu sagen: „Vorher lebte ich total unabhängig in einem smarten Kellerloch. Im Underground, sozusagen. Erst als McDonald’s für meinen Song 40.000 Dollar hinlegte, konnte ich mir ein Dach über dem Kopf leisten.“