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Archiv-Artikel

Gottschalk sagt Spex und Second life

Die Spex zieht von Köln nach Berlin, und auch wenn ich nie Abonnent war, ja mich nicht einmal ernsthaft für Musik interessiere, macht mir das irgendwas aus. Ich hatte lange ein neurotisches Verhältnis zu dieser Zeitung, ich glaube aber, da war ich nicht der Einzige. Ich weiß gar nicht genau warum. Ich bekam Herzklopfen, wenn Diedrich Diederichsen auf einem Konzert vor mir stand, obwohl ich kaum etwas von ihm gelesen hatte. In der von Redaktion und Lesern frequentierten Kneipe Sixpack kam ich mir vor wie ein Betrüger, weil mein damaliges Brillenmodell sagte: Kenn ich alles, weiß Bescheid, ich aber in Wirklichkeit überhaupt kein echtes Spex-Wissen hatte. Obwohl ich einer ganz anderen Szene angehörte, hatte das alles irgendwie mit mir zu tun. Ich fühlte mich stets gezwungen, eine Meinung über die Spex zu haben, auch wenn mich niemand danach fragte. Wahrscheinlich hatte das auch alles ein bisschen damit zu tun, 25 Jahre alt zu sein. Wie wir wissen, sind 10 Jahre für eine männliche Pubertät überhaupt nichts. Es sagt aber auch etwas darüber aus, dass man an Spex nicht vorbeikam, in jener Zeit. Später hätte ich einmal um ein Haar einen Artikel für die Spex geschrieben. Eine Redakteurin hatte die originelle Idee, jemanden zu einem New Yorker Rap-Ereignis zu schicken, der absolut keine Ahnung hat: mich. Es kam nicht dazu. Leider. Für Spex nach New York fliegen, cooler geht‘s ja wohl nicht. Naja. Seufz. Nordrhein-Westfalen ist ja auch sehr spannend.

Und was man im ersten Leben nicht schafft, klappt ja vielleicht im Second life, dieser virtuellen Welt im Internet, in der man ein zweites Leben führen kann. Ich möchte es ja gern mal ausprobieren, bin aber momentan rund um die Uhr mit meinem ersten Leben beschäftigt. Second life ist offenbar etwas für Leute, die wichtige Tätigkeiten wie Fernsehengucken und Schlafen im ersten Leben hintanstellen, um genügend Zeit für ein Zweitleben zu haben.

Im Second Life kann man sich aussuchen, wer man ist, was im ersten Leben ja nur eingeschränkt möglich ist. Die Frau in dem Fernsehbericht, den ich gesehen habe, war im zweiten Leben ein Häschen, das mit einem Düsenjet durch die Gegend flog. Sie ist mit einem anderen Hasen liiert. Vielleicht verspricht sie sich davon ein ausgefülltes Sexualleben.

Wahrscheinlich ergaunern sich die Leute die Zeit für ihr Zweitleben auch durch so genanntes Powernapping. Der moderne Mensch hält ja kein herkömmliches Mittagsschläfchen mehr, selbst Schlafen wird heutzutage zum Leistungssport. Wahrscheinlich kann man dabei noch gleichzeitig die Bauchmuskeln trainieren. Danach ist man dann wieder in der Lage, die heute allerorts geforderten 150 Prozent Leistung zu bringen. Allein die Vorstellung macht mich schon wieder furchtbar müde.

Aber ich habe keine Zeit. Ich will im Second Life unbedingt ein paar Rapper interviewen. Und mir vorher einen Avatar mit Brille basteln.

Fotohinweis: CHRISTIAN GOTTSCHALK lebt in Köln und sagt die Wahrheit – alle zwei Wochen in der taz