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Archiv-Artikel

Anklage mangelhaft

von DOMINIC JOHNSON

Christine Peduto ist Kinderschutzbeauftragte der UNO im Kongo. In der Abenddämmerung des 30. Mai 2003 verließ sie die Residenz des Milizenführers Thomas Lubanga in der kongolesischen Stadt Bunia und ging an einem kleinen Soldaten vorbei. Ein Kindersoldat, dachte sie sich – nichts Besonderes, fast die Hälfte aller Soldaten in Kongos Kriegsgebieten waren damals Kindersoldaten. Und das gab sie auch an, als die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) sie als Zeugin gegen Lubanga wegen Rekrutierung von Kindersoldaten befragten.

Nun sagt die Französin vor Gericht aus, und Lubangas Anwalt Jean Flamme glaubt ihr nicht. „Was gab Ihnen Anlass, zu denken, dass dieses Kind jünger als 15 war?“, fragt er. „Ich habe sein Alter geschätzt“, antwortet die UN-Expertin. Sie sprach ja nicht mit ihm, sie ging bloß an ihm vorbei und merkte, wie klein er war. „Wie können Sie sicher sein, dass es kein Pygmäe war?“, fragt der belgische Anwalt. „Pygmäen haben Erwachsenengesichter“, erwidert Peduto. „Und ein 18-jähriger Pygmäe?“, fragt der Anwalt.

Der Gerichtssaal in Den Haag sollte eigentlich ein historischer Ort sein. Hier bereitet der IStGH, der seit 2003 Kriegsverbrechen weltweit ahnden soll, seinen allerersten Prozess vor. Thomas Lubanga, während des Kongokrieges Führer der Miliz UPC (Union Kongolesischer Patrioten), ist der erste und einzige Häftling des Strafgerichtshofs, und im November wurde zwei Wochen lang beraten, ob die Beweise gegen ihn für einen Prozess ausreichen. Heute Nachmittag sollen die Richter darüber ihren Beschluss kundtun. Sollten sie den Prozess für eröffnet erklären, beginnt demnächst der allererste Kriegsverbrecherprozess vor dem Weltgericht.

„Kadogo“ gelten als treu

Die Anklage gegen Lubanga ist kurios. Es geht allein um die Rekrutierung und den Einsatz von Kindersoldaten, also für den Zweck dieses Verfahrens um Kinder jünger als 15 Jahre. Das tun in Afrika alle Milizenführer, im Kongo erst recht. „Kadogo“ heißen die Soldatenjungs, die in allen Kriegen im Kongo seit 1996 regelmäßig zum Einsatz kommen. Man schätzt sie als mutig und treu, sie bewachen sogar Präsidenten beziehungsweise Möchtegernpräsidenten.

Aber nur Lubanga steht nun vor Gericht. Seine damaligen Gegner, die genauso Kinder rekrutierten, sind inzwischen im Kongo Minister oder Generäle, alimentiert mit internationaler Hilfe. Manche sitzen auch in Gefängnissen. Lubanga wurde im März 2006 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von französischen Soldaten aus Kinshasa nach Den Haag gebracht und steht nun ganz allein stellvertretend für den brutalsten Krieg der Neuzeit.

Eines der Kriegsopfer, das die Anklage beim Prozess präsentieren will, ist eine Frau, deren Sohn und deren Neffe im Alter von zehn und elf Jahren zu Lubangas UPC als Soldaten stießen, nachdem eine andere Miliz ihren anderen Sohn getötet hatte. Dieser Mord aber interessiert den Strafgerichtshof nicht. Die Täter werden nicht ermittelt. Thema vor Gericht wird nur sein, dass danach ihr überlebender Sohn Soldat wurde.

Die Anklage „Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten“ zielt an den großen Massakern und Verbrechen des Kongokrieges vorbei. Man muss nur die persönliche Schuld eines Einzelnen feststellen: Thomas Lubanga. Deshalb gibt es seitens der Anklage eine ausführliche Beweisführung darüber, dass Lubanga eine verantwortliche Position innehatte; dass er wusste, dass im Kongo ein Krieg tobte; dass tatsächlich im Kongo Krieg herrschte; dass Lubanga die UPC führte und damit für deren Aktionen strafrechtlich verantwortlich ist; und dass die UPC Kinder rekrutierte.

„Hoch entwickeltes Gericht“

Es hört sich einfach an und ist doch unendlich schwierig. Man muss beweisen, dass ein Kind tatsächlich ein Kind war – mangels verlässlicher Papiere ein Ding der Unmöglichkeit. Die Anklage verwendet viel Energie darauf, Thomas Lubanga als Alleinherrscher über eine brutale Rebellenarmee darzustellen, die „mit einer der Organisation guter Armeen ähnelnden Struktur“ ausgestattet war und über die er „zu jedem Zeitpunkt Kommando und Kontrolle“ ausübte. Aber kongolesische Rebellen sind unübersichtlich, ihre eigenen schriftlichen Behauptungen sind nicht unbedingt wahrheitsgemäß. Berichte von Journalisten oder Nichtregierungsorganisationen taugen vor Gericht auch nichts, denn die Befragung der darin zitierten Informanten wird im Allgemeinen nicht nach den Standards eines internationalen Gerichts durchgeführt.

„Herr Ankläger, Sie wissen, dass dies ein sehr hoch entwickeltes (sophisticated) Gericht ist“, sagt der Vorsitzende Richter Claude Jordan irgendwann leicht ironisch, als ein Austausch mal wieder besonders kompliziert wird. „Es ist vielleicht für hoch entwickelte Richter konzipiert, was ich nicht bin. Vielen Dank. Fahren Sie fort.“

Um ihre Beweisführung zu unterfüttern, konzentrieren sich die Ankläger gar nicht so sehr auf Kindersoldaten. Sie betonen, dass die UPC zusammen mit ihrem militärischen Flügel FPLC eine von Lubanga straff geführte Organisation war, die im nordostkongolesischen Distrikt Ituri eine monoethnische Diktatur von Lubangas Hema-Volk errichten wollte. „Unter Führung Lubangas zielte die UPC darauf, Hema-Dominanz und Kontrolle in Ituri mit militärischen Mitteln und mit Gewalt herzustellen“, erklären sie. „Die UPC unter Führung Lubangas unterstützte gewaltsame ethnische Spaltung.“

Das allerdings hat mit der Anklage nichts mehr zu tun, sondern mit dem heute noch virulenten politischem Streit im Kongo, und damit begeben sich die Ankläger aufs Glatteis. 2002 bis 2003 – um diese Zeit geht es vor dem Internationalen Strafgerichtshof, dessen Zuständigkeit erst mit dem Inkrafttreten seines Statuts am 1. Juli 2003 beginnt – fühlten sich Ituris Hema als Opfer eines geplanten Völkermords.

Ituri war während des Krieges von 1998 bis 2003 und ist auch seitdem mehr als alle anderen Teile des Kongo von blutigen ethnischen Kriegen heimgesucht. Vor allem Milizen der Völker von Hema und Lendu bekämpften einander gnadenlos – es ging um Kontrolle von Land, von Handelsrouten ins benachbarte Uganda, von politischer Macht in der damaligen Zeit der Stationierung ugandischer Truppen in dem Gebiet. Beide Volksgruppen betrieben jeweils unter wechselnden Milizennamen die Totalmobilisierung. Familien, die nicht mitkämpften und entweder ihre Söhne oder ihr Geld zur Verfügung stellten, waren Verräter.

Ituri, das Kongos größte Goldvorkommen hat und sogar große Ölreserven halten soll, wurde von der UPC nie ganz regiert; selbst in der Hauptstadt Bunia hielt sie nur ein halbes Jahr die Macht, zwischen September 2002 und März 2003. Es war eine grauenhafte Zeit der Massaker. Die Verteidigung legt in Den Haag Briefe des vorherigen Militärgouverneurs der Region vor, der seinem „Präsidenten“ – vermutlich Kongos Präsident Joseph Kabila – detailliert in E-Mails über seine Pläne zur „Auslöschung der Hema“ berichtet.

Auch das wird den Strafgerichtshof aber nicht interessieren. Die Anklage sagt dazu einfach, die Mails seien gefälscht. Es wäre ein hoch brisantes Thema, wenn in Den Haag wirklich Kongos Krieg aufgearbeitet würde mit seinen Hunderttausenden Toten und Millionen indirekten Opfern. Das aber ist hier nicht der Fall. Und es tut auch sonst niemand in der internationalen Justiz.

So kann die Verteidigung ebenso Propaganda verbreiten. Sie stellt Lubanga als Friedensbringer dar, der nur ethnische Versöhnung gewollt und der seine Organisation ganz demokratisch geführt habe. Dies ist ebenso weit von der Wahrheit entfernt wie die Rassenkriegsversion der Anklage. Aber sie wird durch Lubangas Videoansprachen gestützt, die die Anklage selbst in Den Haag als Beweismittel einbringt. Äußere Mächte versuchten, die Völker Ituris zu spalten, erzählt da der UPC-Chef seinen versammelten Soldaten. „Ihr werdet Waffen bekommen, ihr werdet die Bevölkerung schützen, ihr werdet die Sicherheit der Bevölkerung garantieren“, sagt Lubanga da. „Was wir wollen, seit wir die UPC-Armee gegründet haben, ist die Einheit der Kongolesen in Ituri wiederherzustellen. Früher sahen Menschen eine Armee als Eigentum einer Ethnie. Aber ein intelligenter Mensch kann keine Partei auf ethnischer Grundlage bilden, auch keine Armee.“

So spricht kein Hetzer. Und so fällt es Verteidiger Flamme leicht, der Anklage zu unterstellen, „ein politisches Verfahren“ zu führen – was die Anklage sehr erzürnt. Ihre eigene Zeugin Peduto ist für die Verteidigung allerdings ein leichtes Opfer. Im Kreuzverhör zieht sie sich gerne auf den Satz: „Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis“, zurück. Von ihrer ersten Reise nach Bunia im September 2002, deren Eindrücke sie breit schildert, sagt sie schließlich: „Ich hatte damals keine Information über die politische Lage in Ituri.“

Das Lubanga-Verfahren zeigt: Der Gerichtshof hat noch viel zu lernen. Monatelang geht es in Den Haag um technische Fragen. So gibt es kein zentrales Computersystem, auf dem alle Prozessbeteiligten das Prozessmaterial abrufen können. Die Computersysteme sind schwierig zu handhaben, vor allem für Lubanga selbst. Monatelang kann Flamme wegen der Wahlen im Kongo nicht vor Ort reisen, um sich ein Bild zu machen. Als er schließlich in Kinshasa landet, ist das lokale Büro des Strafgerichtshofs verwaist bis auf einen Sicherheitschef, der ihn zwar vom Flughafen abholt, sonst aber nichts für ihn tun kann. Als er in Den Haag in einer Gerichtspause mit Lubanga konferieren will, findet sich im Besprechungsraum eine Überwachungskamera. Die nimmt doch gar nichts auf, entschuldigt sich das Gericht.

„Sie werden in die Geschichte eingehen als diejenigen, die dem Kongo seinen Nelson Mandela gegeben haben“, übertreibt Flamme schließlich im Abschlussplädoyer des Vorverfahrens. Die Schwäche dieses Verfahrens besteht darin, dass das Gericht selbst solchen Behauptungen nichts entgegenzusetzen hat. Nein, eine Aufarbeitung des Kongokrieges wird aus diesem Prozess nicht.