: Weder Ost noch wirklich West
PERFORMANCE Die Tanzfabrik wurde zum Tanzproduzenten und die Weddinger Uferstudios werden mehr und mehr zum Place to be. Das neue Format „Open Spaces“ ist programmatisch für den Ort
VON ASTRID KAMINSKI
Während wir uns so langsam wie möglich fünfmal im Kreis drehen, Dinge auf den Boden schreiben, vor denen wir Angst haben, oder wie überforderte Kühlschränke summen, pressen zwei schicke Weddinger Passantinnen ihre Nasen an die Scheiben. Was sie zu sehen bekommen, ist ein Auszug aus „Niemandszeit“, dem neuen partizipatorischen Projekt von deufert&plischke, Teil von „Open spaces # 1“, dem neuen Showcase-Format der Berliner Tanzfabrik.
Seit der berühmte Berliner Tanzanbieter sich im Areal der Uferstudios eingemietet hat, ist er – ein Glück für die Szene – mehr und mehr als (Ko-)Produzent von Performances und Choreografien tätig. „Natürlich hat das auch mit dem Ort zu tun“, sagt Ludger Orlok, künstlerischer Geschäftsführer.
Die Uferstudios, Teil des Weddinger Uferhallen-Ensembles, eines ehemaligen Straßenbahndepots, fordern einfach zum Kunstmachen auf. Auf dem gesamten Terrain gibt es Ateliers, ein Restaurant mit guter Küche, eine Ausstellungshalle, den Pianosalon Christophori, wo verkannte und echte Stars sich die Tasten in die Hand geben, und jede Menge Tanzstudios, die mehr und mehr den Charakter von Performance-Galerien bekommen.
Nach einem Ort mit vergleichbarem Potential muss man derzeit in Berlin lange suchen. Der Tanzwissenschaftler Franz Anton Cramer spekulierte bei „Open Spaces“, dass so etwas vielleicht nur an einem Ort entstehen konnte, der früher „weder Ost noch wirklich West“ gewesen sei.
Offenheit strahlt die umfunktionierte Industriearchitektur mit dem großen freien Hof und der Hallenbebauung schon an sich aus. Viel Himmel und Sonne fallen ein, eine skandinavische Weite aus Teer und Backsteinen. Vor Kurzem wurde ein kleiner Gemeinschaftssee (Euphemismus für Teich) gegraben, an seinem Ufer hüpften der Urheber und Choreografen-Tänzer Jared Gradinger und der Schauspieler Knut Berger mit ansteckender Begeisterung im Quadrat.
Nachdem die Szene den Ort erst einmal selbst gefeiert hatte, entsteht nun mehr und mehr der Wunsch, das Terrain auch für die Umgebung zu öffnen und die Weddinger Nachbarschaft miteinzubeziehen. Bis Anfang Juli hatte die Kuratorin Stefanie Wenner das fünfwöchige Festival Mykorrhiza gestemmt, bei dem alle Veranstaltungen gratis waren und das Ideal der sozialen Symbiose im zum Pilzgewächshaus umfunktionierten Heizkraftwerk in vitro bestaunt werden konnte. Zum Schluss gab es ein großes Pilzgastmahl.
Nun haben die von der Tanzfabrik entworfenen „Open Spaces“ die Offenheitsstaffel übernommen. Die Veranstalter wollen die jüngsten Produktionen der Künstler im Umfeld bündeln und Austauschformate für tanzthematischen Zeitgeist finden. Dazu gab es in der ersten Ausgabe drei Aufführungen und einen zweitägigen, für das Publikum kostenfreien Salon zum Thema „Fälle von Folklore“, der die Thematik der traditionellen Tanznacht im August einläutete.
Folklore und zeitgenössischer Tanz, das klingt erst einmal widersprüchlich. Aber auf die Kritik an elitären Moves und reinem Gedankentanzen reagierend, erweitern derzeit immer mehr Choreografen ihre Tanzvokabulare. Sie beschäftigen sich mit Ballett, Gesellschaftstanz, Clubbing, Street- und Volkstanz und zapfen oft gleichermaßen deren Bewegungsenergien an, wie sie die soziologischen Phänomene dahinter studieren. Was verrät der Tanz über eine Gesellschaft, und was kann der Einzelne oder eine einzelne gesellschaftliche Gruppe tänzerisch artikulieren? Jochen Roller, Christoph Winkler, Sebastian Matthias, Raphael Hillebrand, Kadir „Amigo“ Memis, Gintersdorfer & Klaßen, Jasmin Ihraç – das sind nur einige der Choreografen, die in letzter Zeit Arbeiten dazu gezeigt haben. Die meisten von ihnen haben auch am Salon teilgenommen.
Bei den Aufführungen stach aber mit Felix Mathias Otts konstruktivistischem Materialientanz „The Iliad“ das am wenigsten folkloristische Stück qualitativ heraus. Wer einen Zugang zur Bewegungsfantasie von Materie sucht, sollte sich den Namen des Choreografen merken. Vielleicht findet sich ja noch ein etwas werkkonformerer Titel.
Einander ähnliche Reaktionen lösten die Werke zweier etablierter Künstlerpaare aus. Die ironisch-postkolonial gemeinte Schwarz-Weiß-Dialogreihe „Logobi“ von Gintersdorfer & Klaßen scheint – trotz toller Performer – genauso abgespielt wie das serielle Partizipationskonzept von deufert&plischke, wonach man sich – zumindest ich – so ziemlich vorschulreif fühlt. Wenn die Wiedererkennbarkeit von Methoden mehr ins Gewicht fällt als der gestalterische Sog, den sie erzeugen wollen, entsteht schnell ein didaktisches Gehege. Von daher: Bitte mehr Open Spaces, aber bitte nicht ganz ohne obskure Energien!