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Archiv-Artikel

„Wir müssen selbst auf uns aufpassen“

DREHBUCH Seit „The Shield“ und „The Walking Dead“ gehört Glen Mazzara zu den gefragtesten Serienautoren. Ein Gespräch über Antihelden und menschliche Abgründe

Glen Mazzara

■ geboren 1967 in Manhattan, arbeitete als Verwaltungsangestellter in einem Krankenhaus, bevor er anfing, Seriendrehbücher zu schreiben. 2011 übernahm er von Hollywoodregisseur Frank Darabont die Verantwortung für „The Walking Dead“.

INTERVIEW JENS MAYER

sonntaz: Herr Mazzara, durch Ihre Mitarbeit an der ultraharten Polizeiserie „The Shield“ haben Sie eine neue Seriengeneration mitgeprägt. Die Hauptfigur, ein gewalttätiger Polizist, ist ein komplexer Charakter. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Glen Mazzara: Es war ein riskanter Serienansatz, denn es war kurz nach dem 11. September 2001, und in den USA wurden alle Feuerwehrleute und Polizisten als Helden gefeiert. Dann kamen wir, erzählten die Geschichte eines Antihelden; ein korrupter und mörderischer Cop. Wir waren aber nicht daran interessiert, dass er wöchentlich Leute umbrachte und der eindeutige Böse ist. Wir wollten, dass er komplex ist, dass man nicht weiß, was man von ihm halten soll. Jeder der Autoren hatte seine eigene Antwort darauf, warum dieser Vic Mackey tut, was er tut.

Dadurch, dass er ein Repräsentant von Recht und Gesetz ist, ist seine Figur weitaus kontroverser als die eines Tony Soprano, der als Mafiaboss ja per se ein böser Junge ist. Heute haben wir mit Walter White einen Lehrer, der in „Breaking Bad“ Drogen herstellt und vertickt, und mit Frank Underwood in „House Of Cards“ einen skrupellosen Politiker im Weißen Haus. Was fasziniert uns so an diesen Typen?

Meine persönliche Definition von Fernsehen lautet: Coole Leute machen jede Woche coole Dinge! So einfach ist das. Diese Charaktere sind die dynamischsten und interessantesten in ihrer Welt, deswegen wollen die Zuschauer sie jede Woche aufs Neue sehen. Die Tatsache, dass sie böse Taten begehen und ihre Gründe dafür haben, resultiert wahrscheinlich aus der Weiterentwicklung der amerikanischen Heldenfigur. Die war schon immer ein Individuum, das seine Angelegenheiten selbst in die Hand nahm und die auch mit Gewalt durchzusetzen wusste. Da griff eine Gangsterbande eine Westernstadt an, aber es gab einen individuellen Grenzgänger, der die Schwachen verteidigte und Krieg gegen diejenigen führte, die noch schlechter waren als er. Dieser Held war recht klar definiert, ein John-Wayne-Typ. Dieses Bild ist mittlerweile komplexer geworden, schlammiger und differenzierter, weil dieser Typus des amerikanischen Helden beziehungsweise Antihelden von mehr und mehr Leuten weiter ergründet wird.

Haben wir genug von den strahlenden Helden?

Ein Held in der blitzblanken Rüstung ist nicht überzeugend, weil er nicht menschlich wirkt. Wer ist der spannendere Charakter: Superman oder Batman? Batman ist der komplexere Held. Wenn man so viel Fernsehzeit damit verbringt, sich in die Persönlichkeit einer Figur hineinzuversetzen, sollte sie so komplex wie möglich sein. Das zieht im Übrigen auch bessere Schauspieler an, weil sie daran interessiert sind, komplexes Material zu spielen. Auch für die Spannungsbögen der Autoren ist das viel interessanter. Wenn man einen klar definierten, perfekten Helden hat, kann man immer nur dieselbe Geschichte wieder und wieder erzählen und ihn nicht entwickeln. Das fühlt sich für die Zuschauer nicht echt an.

Der Trend kam vom Pay-TV- und Kabelfernsehen. Mittlerweile zeigen auch Mainstreamsender Serien wie „Hannibal“, die sich an diesen kontroversen Charakteren orientieren.

Die Zuschauer versuchen die Motivation dieser komplexen Charaktere zu verstehen. Zudem merken sie, dass selbst eine Figur wie Hannibal Lecter unterschiedliche Facetten in seiner Persönlichkeit hat. Wenn er nur böse wäre, um böse zu sein, wäre das Publikum schnell gelangweilt. Deswegen funktioniert diese Art von komplexer Erzählung nur, wenn man den Zuschauern hoffentlich einen Schritt voraus ist, sie weiter überraschen und unterhalten kann.

Dazu kommt, dass Serien wie „The Shield“ oder auch „The Walking Dead“, die Zombieserie für die Sie drei Jahre lang als Autor gearbeitet haben, eine explizite Darstellung von Gewalt mitgebracht haben. Gibt es noch Grenzen?

Das ist eine große Diskussion. Ein Beispiel aus meiner Arbeit: Als ich die Verantwortung bei „The Walking Dead“ übernahm, habe ich beispielsweise das Volumen an Blutspritzern bei Kopfschüssen verringert. Auf der anderen Seite gab es eine Szene, in der die Hauptfigur Rick ein kleines Mädchen, das zum Zombie geworden ist, in den Kopf schießen muss. Ich wollte das nicht zeigen, denn ich dachte, ich müsste nicht. Beim Schneiden habe ich jedoch gemerkt, dass die Szene emotional nicht befriedigend ist – und habe es am Ende doch gezeigt. Man konnte dann nachvollziehen, welche Auswirkungen diese Szene auf die Charaktere hat, mit denen das Publikum mitfiebert und so deren Schmerzen nachempfinden kann.

Bei „The Shield“ haben Sie an Originalschauplätzen in Los Angeles gedreht und haben sich an der Ästhetik der US-Livenachrichten orientiert. „The Walking Dead“ beschreibt dagegen komplett fiktional die Welt nach einer Zombie-Apokalypse. Aber beide Serien beschreiben menschliche Abgründe.

Egal an welcher Story ich arbeite, der Einsatz muss für die Zuschauer nachvollziehbar sein – es muss eine echte Frage von Leben und Tod sein. Ich will, dass diese Serien authentisch sind. Abgesehen davon, dass es bei „The Walking Dead“ um Zombies geht, also reanimierte Körper, gibt es dort keine Technologie, kein Computerprogramm, das die Welt in letzter Minute retten könnte, keine Zauberei, nichts. Es geht um Menschen, die ihre Probleme lösen müssen.

Was sagen diese Serien über unsere Gegenwart aus?

Sowohl bei „The Shield“ und „The Walking Dead“ sieht man Menschen, die ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Und man sieht sie in eng verwobenen persönlichen Gemeinschaften agieren. Bei „The Walking Dead“ gibt es einen Kern von Charakteren, um die wir uns sorgen, die zusammenbleiben und überleben müssen. Es gibt keine höhere Autorität, keine Hilfe von der Regierung. Was dort mitschwingt, können die Zuschauer nachvollziehen, weil sie das Gefühl haben, dass sie sich auf sich selbst verlassen müssen, auf ihre unmittelbare Familie oder die Gemeinschaft, die sie umgibt. Es ist das Gefühl, dass ein Großteil der sozialen Strukturen, die uns umgeben, den sehr Reichen dient oder speziellen Interessengruppen, doch niemand nach dem Jedermann schaut. Ich rufe ganz sicher nicht zur Anarchie auf, aber ich denke, diese Shows finden Resonanz, weil die Menschen den Glauben an große Institutionen verloren haben, die eigentlich auf uns aufpassen sollten.

Das Interview fand im Rahmen des „European TV Drama Series Lab 2014“ statt, veranstaltet vom Erich Pommer Institut und dem Creative Europe Desk Berlin-Brandenburg.