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Archiv-Artikel

Bad Boy Baselitz

Argumentativer Kopfstand: Malerfürst Georg Baselitz vergleicht die Restitution von Kirchners „Berliner Straßenszene“ mit dem Bildersturm der Nazis

Wer die Welt ständig auf den Kopf stellt, dem können auch mal die Gedanken verrutschen. Georg Baselitz hängt seine Bilder seit Jahrzehnten verkehrt herum auf. Und einen argumentativen Kopfstand vollzog der deutsche Malerfürst nun auch. Er suchte einen Vergleich für die Restitution von Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Berliner Straßenszene“ im vergangenen Jahr – und leider fand er ihn: Die Rückgabe des Werks an die Erbin des jüdischen Alteigentümers Hans Hess verglich er mit dem Bildersturm der Nationalsozialisten gegen die „entartete Kunst“.

Der Meister redete sich richtig in Rage. Dabei sollte er doch eigentlich nur seine neueste Arbeit – den „Remix“ seines Bildes „Nachtessen in Dresden“ (1983) – vorstellen. Deswegen war Baselitz nach Berlin gekommen, in die Galerie Contemporary Fine Arts. Doch wie so oft, wenn der geborene Sachse in Berlin mit Berlinern über Berlin redet, gab’s Krawallrhetorik.

Baselitz und Berlin – hier hatte der Maler 1963 seinen großen Kunstskandal. Wegen eines gemalten Riesenpenisses. Sein contemporärer „Nachtessen“-Remix ist dagegen eine Hommage an die „Brücke“-Künstler. Kirchner erscheint darauf mit Pickelhaube und Cowboystiefeln. Baselitz mag Kirchner. Berlin mag Kirchner nicht. Das zumindest behauptet Baselitz. „Kirchner war ein großer Maler, aber in Berlin weiß das keiner. Hier geht man sehr freizügig mit seinen Bildern um“, sagte er. Und er hoffe, dass dieses Verhalten „geahndet“ werde. Dann führte er einen Richter am Berliner Verwaltungsgericht ins Feld, der in der FAZ geschrieben hat, dass die Rückgabe des Kirchner-Bildes „rechtswidrig“ gewesen sei. Aber Recht habe bei der Rückgabeentscheidung des damaligen Berliner Kultursenators Thomas Flierl, Linkspartei.PDS, sowieso keine Rolle gespielt, tönte Baselitz: „Das waren moralische Gründe. Diese moralischen Gründe kenne ich: Kirchner ist schon mal Ende der 30er-Jahre aus den Museen rausgeschmissen worden.“ Das sei „deckungsgleich“.

Man muss nicht gleich Kopfstehen ob dieser Argumentation, Kopfschütteln reicht. Dem 69-Jährigen ein Kalkül zu unterstellen, die Präsentation seines Alterswerks durch einen Begleitskandal aufzupeppen, wäre sicher falsch. Baselitz’ Empörung ist glaubwürdig – weil sie Ausdruck einer weit verbreiteten Unsicherheit ist, was den Umgang mit dem Thema „Kunstrestitution“ angeht. Deren Grund ist mangelnde Transparenz. Auf der einen Seite fiel die Entscheidung über die Rückgabe des Kirchner-Bildes in kleinstem Kreis hinter verschlossenen Türen. Auf der anderen Seite sind die deutschen Museen und ihre Depots in keinster Weise durchleuchtet. Welche Restitutionsforderungen stehen an? Welche werden gerade verhandelt? Wo? Und von wem? Auch über die Alteigentümer und ihr Schicksal wird nicht informiert. Oft waren sie Mäzene, deren damaliges Engagement heute einfach ignoriert wird. Da kann es nicht wundern, wenn die Debatte um Kunstrestitution unsachlich, emotional oder gar populistisch geführt wird. Seine spektakuläre Gedankenentgleisung muss Baselitz verantworten. Trotzdem steht er auch für dem durchschnittlichen Kunstfreund, der sich zunehmend um die bis Anfang der 30er-Jahre entstandenen Bilder seines jeweiligen Lieblingsmuseums sorgt.

Eine Debatte anzuschieben, die für Aufklärung und damit Entemotionalisierung sorgt, ist schwer. Baselitz mit Berlin zu versöhnen dagegen ist leicht. Dafür müssten die Freunde der Nationalgalerie nur eines seiner Bilder erwerben. TIM ACKERMANN