: Die Gesetze des Terrors
Die Leute saßen schon zwei Stunden vor Beginn in der Hamburger Spiegel-Kantine. Und als um 18.30 Uhr der Einlass beginnen sollte, kam niemand mehr herein. Die 500, denen es geglückt war, kamen vielleicht nicht, weil sie letztgültige Wahrheiten von „Dostojewski als Analytiker des modernen Terrorismus“ erwarteten. Sondern weil Terrorismus immer geht – umso mehr, wenn Jan Philipp Reemtsma, der Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust darüber diskutieren.
Bei der Beschäftigung mit der RAF sehe man „wie unter einem Vergrößerungsglas“, wie mit der Frage von Widerstand und Gerechtigkeit gerungen werde, sagte Aust am Ende, und dem schloss sich Reemtsma an. Gekommen waren an diesem Abend vor allem diejenigen, die die RAF als Zeitzeugen erlebt hatten. Und darunter vielleicht gerade jene, die damals „das Gefühl hatten, Partei ergreifen zu müssen“, wie Aust es nannte. „Dann ist man schnell bei dem Konzept der RAF.“ Dem widersprach Reemtsma. Deutlich wurde, dass Austs Ansatz ein chronistischer war, der von Reemtsma dagegen ein analytischer – und deutlich produktiver, um zu verstehen, was diese Gruppe ausmachte. Was, ganz nebenbei, ein aufmunterndes Licht auf die Geisteswissenschaften wirft; deren Art nachzudenken will die Hamburger Veranstaltungsreihe „nachgedacht“ (www.nachgedacht-hamburg.de) ja beleuchten.
Reemtsma tat das, indem er Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ auf brauchbare sozialwissenschaftliche Hinweise zur Analyse des modernen Terrorismus abklopfte. „Worum geht es?“, fragte er eingangs – und für die Aufgeweckten unter den Zuhörern mag es eben die Grundsätzlichkeit dieser schlichten Frage gewesen sein, die sie hatte kommen lassen – nicht die Hoffnung auf Blutig-Ankedotisches aus der RAF-Familie.
Müßig nannte Reemtsma es, sich auf eine Motivsuche zu begeben. Er machte kein Hehl daraus, dass er Dostojewskis Weigerung teile, die Gruppe als mehr denn eine Lebensform zu verstehen, nämlich als politisch motiviert. „Das Geheimnis ihrer Wirkung liegt in ihrer Dummheit“, zitierte er Dostojewki.
Lohnender sei die Frage, wer der Handelnde sei und unter welchen Bedingungen er sich bewege. Voraussetzung sei ein Bedürfnis nach Gruppenbildung und Abgrenzung, ein Rekrutierungsmilieu und ein weiteres Umfeld, das zwar die Ziele der Gruppe teilt, nicht aber deren Mittel billigt. Schließlich zögen sich die Parallelen, so Reemtsma, bis hin zum Mord an einem Gruppenmitglied – im Fall der RAF blieb es beim Plan –, der zum „Blutkitt“ wird. Aust wollte das Phänomen RAF nicht so grundsätzlich aus dem historischen Kontext gerissen sehen und erinnerte an die Selbst-Ermächtigung als Säuberer von nationalsozialistischen Überresten. Wo er Unterschiede zwischen Baader und Meinhof ausmachte, verweigerte sich Reemtsma jeder „Mystifikation einer Rebellion gegen die Nazi-Vergangenheit“.
Interessant war das Bemühen im Publikum, ein „Ungerechtigkeitsgefühl“ als Motivation für den Terror zu behaupten. „Nur Dummheit sei ihm zu wenig“, sagte ein Zuhörer. Und ob Reemtsma nicht Angst habe, über das das Nachvollziehen in die Rechtfertigung zu schlittern? „Ach, Quatsch“, sagte der. Bei Baader habe er nichts dergleichen gefunden – und Meinhofs Ausführungen vor Gericht hätten wenig zu tun gehabt mit einem Schrecken über die Vergangenheit. FRIEDERIKE GRÄFF