: Die Nützlichkeit von bösen Buben
Ein Nitsch ist ein Nitsch ist ein Nitsch. Nichts schießt quer, nichts irritiert, alles ist vorhersehbar: Die Retrospektive zum Körper- und Mysterientheater-Künstler Hermann Nitsch im Berliner Martin-Gropius-Bau ist eine enorme Ansammlung von pseudosakralem Kitsch und reaktionären Setzungen
von BRIGITTE WERNEBURG
Die Orgelmusik tost. Die Leinwände dehnen sich wenigstens über zehn mal zwölf Meter. Das Rot ist, wennschon – denn schon, blutrot; jedenfalls zuletzt, wo es sich wieder um Malerfarbe handelt. Der österreichische Staatspreisträger Hermann Nitsch kennt nur einen einzigen künstlerischen Gestus, den der Überwältigung. Im Pomp ritueller Prozessionen und im Ekel, den sein kultisches Schlachtertheater hervorrufen wie überwinden helfen soll, findet er die Mittel seiner Wahl. Weil aber alles so proper ausschaut, im ersten Geschoss des Berliner Martin-Gropius-Baus – die rund 400 Quadratmeter Schüttbilder, die Messgewänder und liturgischen Geräte, die sorgsam inszenierten Altäre samt hübsch arrangierter Blumenkübel, die Phiolen voll Blut, die Operationsbestecke und die penible publizistische, fotografische und filmische Dokumentation seiner über 150 Aktionen – greifen die Mittel nicht. Statt von Ekelgefühlen erschüttert oder vom Pomp überwältigt zu werden, verblüfft die enorme Ansammlung von pseudosakralem Kitsch.
Gleich ganze achtzehn Säle und den Umgang bespielt Hermann Nitsch mit dem Gesamtkunstwerk seines Orgien-Mysterien-Theater – und ein Raum schaut aus wie der andere. Nichts stört die stets symmetrisch ausgerichtete Anordnung, nichts schießt quer, nichts irritiert; alles passt und alles ist vorhersehbar. Natürlich braucht es Orgelmusik in Berlin, was sonst, für die Dokumentation der Grands Messes des Hermann Nitsch. (Bei den realen Feiern auf dem Areal des Schlosses Prinzendorf, das er 1971 erwarb, passt die Blaskapelle dann besser.) Und natürlich braucht es den sauberen Weihrauchduft, unter dessen Dunstglocke man den 68-jährigen Meister mit dem Rauschebart schnell mal für den Weihnachtsmann hält.
Alles ist fürchterlich unoriginell: Die Paraphernalia, die entweder aus dem Operationssaal oder vom Hochaltar stammen; das dionysisch-apollinisch zweigeteilte Ritual der orgiastischen Enthemmung und der nachfolgenden kathartischen Läuterung; die eingesetzten Mittel wie Tier- oder Menstruationsblut und Eingeweide, die uns den Fakt unserer vermeintlich unsauberen Geburt – „inter urinas et faeces nascimur“ – nachdrücklich vor Augen führen. Nur schwer kann man sich des Eindrucks erwehren, einem wirklich exquisit einfältigen Gemüt zu begegnen.
Viel zu schnell sind für Nitsch schon von Beginn an die Rituale, Relikte und Rollen gefunden und festgelegt, die Schemata, nach denen die Bilder geschüttet und die 3-oder-6-Tage-Spiele abgewickelt werden: „wandlung, abendmahl (das ist mein fleisch und blut) – ölberg – kreuzigung – orgiastik und opferung des dionysos, seine zerreissung – tötung des orpheus – der vom eber zerfleischte adonis – ödipus-blendung (kastrationssymbol) – die rituelle kastration – das tieropfer im allgemeinen (das tieropfer als ersatz für das personalopfer) – die totem-mahlzeit (totem-tier-zerreissung)“ etc. etc., geschrieben in einem Nitsch-Manifest von 1962, nachzulesen in der Textsammlung zum Orgien Mysterien Theater, die 1990 im Salzburger Residenzverlag erschien.
Selbst wenn es ein Spaß gewesen sein muss, begleitet von Schlagzeilen zu Polizeieinsätzen und Prozessen, endgültig aus dem bürgerlichen Beruf des Grafikers auszusteigen: Das kann auch 1960 nicht originell gewesen sein. Es spricht einfach zu wenig dafür. Zu viele Künstler hatten schon die Begrenzung der Leinwand, in ethischer wie ästhetischer Weise, hinter sich gelassen. Fontana hatte sie durchstoßen – was sich übrigens auch in den christlichen Raum zurückprojizieren ließ, wo der Schlitz im Gewand des Heiligen Franziskus den Blick auf die Seitenwunde freigibt und sie zugleich repräsentiert. Aufrecht stehend hatte sich Jackson Pollock über ihr ergossen während Yves Klein, Schock lass nach, den nackten Frauenkörper als Medium des Farbauftrags entdeckt hatte. Und Otto Mühl schmierte dann schon – smells like teenage spirit – echter Scheiße auf die Leinwand. Mit Günther Brus, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler bildete er den Kern des Wiener Aktionismus, dessen blutige Happenings und von Gewalt vor allem gegen den eigenen Körper strotzenden Performances sofort allerhand Tugendwächter und Tierschützer auf den Plan riefen, abgesehen von Kirche, Polizei und Presse. Wer in deren Auftritt allerdings die Bestätigung der künstlerischen und gesellschaftlichen Notwenigkeit des Wiener Aktionismus erkannte, sah offenbar nicht wie permissiv die Gesellschaft längst war.
Doch vielleicht fürchtete der Gegner Nitschs auch nur um die letzten Überreste des repressiven Klimas der frühen Nachkriegszeit, als die Frauen an den Herd zurückgeschickt wurden, damit wieder eine Ordnung einkehrt, in das Land der Kriegsverlierer – und damals grundsätzlich vergessen, der vielen Kriegsverbrecher. Damit aber Ordnung herrscht, braucht es keine Selbstzweifel und kein Streitgespräch, sondern Autorität und Gewalt. Und falls die im Alltag nicht mehr sichtbar werden, dann eben im Ausnahmezustand, den die neue-alte Avantgarde wieder einmal mit künstlerischen Mitteln herzustellen weiß. Waren die Väter in der Gewaltausübung ordentlich dämonisch gewesen – ein Konzept, das am Ende nicht so recht aufging – waren die Söhne nun anarchisch explosiv darin. Die Väter stürzen wollten sie nicht – nur das erfolgreichere Konzept, das sie bis heute zu haben scheinen.
Traditionell ist das Ausstellen und Herzeigen von Blut auf einer weißen Leinwand ein Ritual vormoderner Gesellschaften, das den Akt der Entjungferung bezeugt; das männliche Anrecht auf die sexuelle Unmündigkeit der Frau und die generelle Verfügungsgewalt über sie. Mehr Sinnbild patriarchaler Autorität kann es also kaum geben als das Blut, das Nitsch auf die weiße Leinwand schüttet. Nitschs maßgebliche künstlerische Setzung ist erzreaktionär.
Genau das aber begeistert die bösen Buben des Kunstbetriebs, die sich heute auf ihn berufen. Sie bedienen sich denn auch gerne eines weiteren autoritären Sinnbilds von Hermann Nitsch, dem Geschrei: Denn was man nicht sagen und begründen kann, das muss man eben herausbrüllen. Das „tiefe, begeisterte ja zum leben“, um das es dem Oberspielleiter in seinem Orgien-Mysterien-Theater und seinen Farb- und Blutschüttungen geht, baut eben, wie er sagt, auf so starken Affekten auf, „dass die sprache nicht mehr gebraucht werden kann.“ Wahrscheinlich, weil sie bekanntlich immer zu viel reden, sind die Frauen, und weil sie zu sehr auf Argumente setzen, die Linken und Liberalen, diejenigen, die Nitsch als seine Hauptgegner bezeichnet. In Letzteren sieht er rationalistische „kaufmannsphilosophen“ und ein angeblich „widerliches zusammenkriechen von sinnlich unbegabten“, die die „lebensekstase“ und somit sein Werk bekämpfen. Nitsch provoziere ja nur die, „die noch immer an die Demokratie glauben“, plappert es ein keinesfalls provozierter, weil die Demokratie verachtender Christoph Schlingensief aus. Müssten eigentlich nicht die FPÖ-Buben unbedingte Nitsch-Anhänger sein?
Falls man nicht annehmen möchte, es handle sich durchweg um rechtsgerichtete Verfassungsfeinde, sammeln merkwürdigerweise ausgerecht diejenigen, die ihn angeblich bekämpfen, seine Kunst. Längst sind die Gemälde von Hermann Nitsch nicht nur ins Museum, sondern auch in Politikerbüros, Rechtsanwaltskanzleien und bürgerliche Wohnzimmer vorgedrungen. Dort entfalten die großformatigen, zuletzt knallbunten Farbstrom-Panoramen eine angenehm dekorative Wirkung und dank der schematischen Herstellung erübrigt sich schönerweise die Frage nach der besseren Arbeit. Ein Nitsch ist ein Nitsch ist ein Nitsch.
Wenn man ferner hört, dass der Hausmeister des Sprengel-Museums in Hannover seinen Abenteuerurlaub auf Schloss Prinzendorf verbringt, dann wüsste man schwerlich zu sagen, wo der Stein des Anstoßes eigentlich noch liegen soll. Das Tamtam um die erste große deutsche Hermann-Nitsch-Retrospektive, also die Aufregung um die Großtat der überfälligen Würdigung eines angeblich noch immer umstrittenen Künstlers, sie ist so steril wie die Räume im Martin-Gropius-Bau.
Bis 22. Januar, Katalog (Buchhandlung Walther König, Köln) 25 €