: Sie glauben daran
BEWEGUNG Lehrer protestieren gegen sexuelle Vielfalt, Sozialarbeiter verteilen Plastikembryos und die AfD macht damit Wahlkampf. Sind das erste Anzeichen einer deutschen Tea Party? Eine Spurensuche
■ Die Zeitung: Die 1986 gegründete Wochenzeitung Junge Freiheit bewegt sich zwischen konservativen und rechtsradikalen Tendenzen. Seit einigen Jahren steigt die Auflage: Während sie im Jahr 2000 noch bei etwa 8.000 Exemplaren pro Quartal lag, wurden im zweiten Quartal 2014 knapp 23.000 Zeitungen verkauft. Auf ihrer Webseite bietet die Zeitung ein spezielles AfD-Abo an.
■ Die Nachrichtenagentur: Seit 1970 gibt es idea, eine „unabhängige Evangelische Nachrichtenagentur“, die dem evangelikalen Dachverband Evangelische Allianz nahesteht. Neben dem idea-Pressedienst gibt es ein Internetblog, eine Wochenzeitung, von der laut IVW 27.331 Exemplare verkauft werden, sowie eine tägliche Fernsehsendung.
■ Das Internetportal: Das erzkatholische Onlinemagazin kath.net wendet sich gegen demokratische Tendenzen in der katholischen Kirche. Man könne durchaus von Kampagnenjournalismus sprechen, sagte der Chefredakteur Roland Noé im österreichischen Standard. Der kath.net-Watchblogger Philip Saß sieht ein regelmäßiges Bedienen von Feindbildern – mal seien Muslime dran, mal Homosexuelle. Der Verein kath.net verantwortet auch die „freie katholische Enzyklopädie“ kathpedia.
AUS NAGOLD, DER SÄCHSISCHEN SCHWEIZ UND BERLIN ANNA HUNGER, KRISTIANA LUDWIG, DANIEL SCHULZ (TEXT) UND STEFANIE F. SCHOLZ (ILLUSTRATION)
Wenn Beatrix von Storch sich verabredet, um über Abtreibung und Homo-Ehe zu sprechen, schlägt sie als Treffpunkt gern das Café Weltempfänger vor. Einen Ort in Berlin-Mitte, an dem chinesischer grüner Tee namens „Low Rider Space“ serviert wird, Kaiserschmarrn mit Preiselbeeren und Bio-Spiegel-Ei mit Bacon. Essen für Menschen, die für alles offen sind.
Beatrix von Storch sagt, sie komme öfter hierher. In der Küche sprechen sie Spanisch, die Sprache, die sie gerade zu lernen versucht. Ihr Mann Sven von Storch ist in Chile aufgewachsen. „Mucha Gracia“, sagt sie. Chilenisch, ohne „s“ am Ende.
Beatrix Amelie Ehrengard Eilika von Storch, 43 Jahre alt, geborene Herzogin von Oldenburg, ist die wichtigste Frau der AfD. Im Mai zog sie für die Partei ins Europaparlament ein. Bei den Wahlen in Sachsen am nächsten Wochenende könnte die AfD 6 Prozent der Stimmen bekommen, den Prognosen zufolge genauso viele wie die Grünen und doppelt so viele wie die FDP. Nach dem Erfolg bei der EU-Wahl wäre das ein weiterer Schritt ihrer Etablierung.
Als die Alternative für Deutschland im Februar 2013 gegründet wurde, war sie die Partei der Eurokritiker. Sie versammelte Lobbyisten, Ex-CDUler, Journalisten und Professoren, die fanden, dass Deutschland in den Wirtschaftskrisen zu viel für andere Länder zahlt. Jene, die rauswollten aus der Gemeinschaftswährung. Von Storch stieß bald nach der Gründung dazu, sie hatte schon 2011 ihren Job als Anwältin aufgegeben, um gegen Rettungsschirme und Finanzhilfen zu kämpfen.
Doch nach und nach formulierten von Storch und andere Spitzenpolitiker in der AfD, was sie neben Geld für Griechenland und mehr Macht für die EU noch ablehnen: mehr Rechte für Schwule und Lesben, Frauenquoten. Maßnahmen, die zur Gleichstellung von Männern und Frauen dienen, sehen sie als staatliche Umerziehung. Von Storch benutzt gern das Wort „Genderei“. Im sächsischen Wahlprogramm steht der Plan, eine Erziehungsoffensive für mehr Disziplin an Schulen zu starten und Volksentscheide über den Bau von Moscheen einzuführen. Auch so eine Position von Beatrix von Storch.
Eine ähnliche Entwicklung spielte sich vor fünf Jahren in den USA ab. Konservative schlossen sich wegen einer finanzpolitischen Forderung – nach niedrigeren Steuern – zusammen. Sie nannten sich Tea Party, wie die Boston Tea Party von 1773, bei der Bostoner Bürger aus Protest gegen die Steuerpolitik der britischen Kolonialmacht Teekisten ins Meer warfen.
Im Laufe der Jahre wurden andere Themen in der neuen Tea Party immer wichtiger, vor allem Anliegen der christlichen Rechten: Demonstrationen gegen Abtreibung, gegen neue Gesetze zur Homo-Ehe, gegen Einwanderung aus Mexiko. Über die Republikanische Partei drang die Tea Party ins politische System vor. Bei der nächsten Wahl könnte sie den Präsidentschaftskandidaten mitbestimmen.
In Baden-Württemberg haben in diesem Jahr Tausende dagegen protestiert, dass sexuelle Vielfalt in den Lehrplan aufgenommen wird. In Berlin laufen im September wieder Tausende mit weißen Kreuzen durchs Regierungsviertel, um gegen Abtreibung zu demonstrieren. Die AfD wird sehr wahrscheinlich in mehrere Landtage einziehen. Gibt es eine deutsche Tea Party?
Manche sagen, wenn es sie gibt, steht Beatrix von Storch an ihrer Spitze.
Sie ist vorsichtig an diesem Tag im Café Weltempfänger, so kurz vor den Wahlen in Sachsen. Sie spricht leise, nestelt an ihrer Handtasche. Über Abtreibung möchte sie erst gar nicht reden, das sei eine Gewissensfrage. Dann sagt sie: „Ich hoffe sehr, dass ich die Kraft hätte, ein Kind auch im Falle einer Vergewaltigung auszutragen.“ Ihre Rolle ist die der konservativen Christin.
Die Tea Party in den USA ist eine Bewegung von unten. Beatrix von Storch war lange Vollzeitaktivistin. Mit dem von ihr gegründeten Göttinger Kreis und der Allianz für den Rechtsstaat protestierte sie als Studentin dagegen, dass der damalige Kanzler Helmut Kohl die Enteignungen der DDR-Bodenreform anerkannte. Mit Vereinen wie Zivile Koalition engagierte sie sich gegen Sexualerziehung für kleine Kinder und das Adoptionsrecht für Homopaare.
Die Bewegung, von der Beatrix von Storch ein Teil ist, ist weit größer als die Alternative für Deutschland.
Bad Schandau, ein Ort mit 4.000 Einwohnern in der Sächsischen Schweiz. Auf dem Platz vor dem Straßenbahndepot steht Bernd Katzschner in seinem Pavillon und bettet Föten aus Plastik auf Taschentücher. Am Stand nebenan liegen Wanderkarten auf Baumrinde, gegenüber verkaufen zwei Frauen Karten für eine Fahrt mit der historischen Straßenbahn. Heute ist Kirnitzschtalfest, für Bernd Katzschner eine Möglichkeit, Menschen zu erreichen.
Ein Junge mit rotem Bürstenschnitt bleibt am Stand stehen, vor einer Maschine aus Metall. „Willst du was prägen?“, fragt Katzschner. Für die Anstecker, die man an T-Shirts heften kann, hat er Papierstreifen mit Motiven vorbereitet. Logos zum Ausschneiden: Embryonen in einer Blume und der Schriftzug: „Ich möchte leben“.
Der Junge blickt auf: „Haben Sie auch was mit Natur?“, fragt er. Katzschner nickt. Er trägt Holzfällerhemd, sein Vollbart ist grau. „Das hier ist auch Natur“, sagt er sanft: „Das Kind im Bauch der Mutti.“
Der Junge zeigt schon auf das nächste Motiv. „Und was ist das?“, fragt er. „So groß warst du auch mal. So groß wie ein Gummibärchen“, sagt Katzschner.
Bernd Katzschner legt das Papier auf die silberne Fassung, presst es mit einem Hebeldruck hinein und reicht den Button über den Tisch. Der Vater des Jungen hat neben dem Stand gewartet, er lächelt Katzschner zu. „Danke“, sagt er.
Bernd Katzschner ist Diplom-Sozialarbeiter und war bei der Diakonie in Pirna angestellt, bevor er Anfang der Neunziger begann, Vollzeit für Kaleb zu arbeiten. Kaleb heißt „Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren“. Im sächsischen Sebnitz und im Umland unterrichtet er jetzt das, was er und seine Mitstreiter „Lebensschutz“ nennen: Widerstand gegen legale Abtreibungen, gegen Stammzellenforschung, Sterbehilfe und gegen homosexuelle Lebenspartnerschaften. Außerdem engagiert er sich für ein „Erziehungsgehalt“ – für die staatliche Finanzierung der Hausfrau.
Sebnitz liegt in der Nähe des Erzgebirges, die Menschen hier sind religiöser und bibeltreuer als in anderen Gegenden Deutschlands, selbst in der kirchenfeindlichen DDR hat sich das erhalten. Als die evangelische Landeskirche in Sachsen vor drei Jahren plante, homosexuelle Geistliche in Pfarrhäusern wohnen zu lassen, protestierten über hundert Kirchenvorstände, ein Fünftel der Gemeinden. Kirchenmitarbeiter unterschrieben ein Papier, das einem Aufruf zur Kirchenspaltung gleichkam. Ausgelöst hatte das ein Pfarrer aus dem Erzgebirge. Eine Autorin prägte für diesen Streifen Land den Begriff „sächsischer Biblebelt“ in Anlehnung an die Region im Süden der USA, in der besonders viele Evangelikale leben.
Wenn Sachsen am nächsten Wochenende ein neues Parlament wählt, wird sich zeigen, ob das fromme Erzgebirge weiterhin die große konservative Partei wählt, die CDU. Oder ob die AfD hier Stimmen gewinnt.
Die Christdemokraten pflegen die Verbindung zu den streng Religiösen. In Annaberg-Buchholz marschiert Bernd Katzschner mit mehreren hundert anderen Abtreibungsgegnern einmal jährlich schweigend durch die Straßen. CDU-Politiker sind immer dabei. Der Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz läuft hier durch seinen Wahlkreis. Der sächsische Fraktionsvorsitzende Steffen Flath forderte bei so einem Marsch, Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten.
2008 gründeten CDU-Mitglieder im Erzgebirge einen Verband der Christdemokraten für das Leben. Beim Fest zum zwanzigsten Jubiläum von Bernd Katzschners Verein Kaleb in der Sebnitzer Stadthalle sprach ein CDU-Landtagsabgeordnete ein Grußwort. Später redete der CDU-Bürgermeister. Dazwischen gab es ein Kasperle-Theaterstück zum Thema Abtreibung, Titel: „Einfach weggeworfen“.
Trotzdem, sagt Katzschner, können sich einige aus seinem Verein vorstellen, diesmal statt der CDU die AfD zu wählen. In Sachsen macht die Partei das Thema Familienpolitik stark. „Wir brauchen Politiker, die den Mut haben, das Wort einer aktiven Bevölkerungspolitik in den Mund zu nehmen“, sagt die sächsische Spitzenkandidatin Frauke Petry. „Aktive Bevölkerungspolitik“ heißt: mehr Kinder. Bundesvorstand Bernd Lucke nannte Abtreibungen „verwerflich“.
Die Frage ist, ob die AfD vermag, was die Tea Party in den USA geschafft hat: die Politik der großen konservativen Partei zu beeinflussen. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat gerade angekündigt, dass er Koalitionsgespräche mit der AfD nicht ausschließe. Manche in der CDU fürchten, zu viele AfD-Erfolge könnten den Mitte-Kurs der Merkel-Partei infrage stellen.
Beim Kirnitzschtalfest haben sich Bernd Katzschner und seine Mitarbeiterin ein rustikales Tomatenbrot geholt, vom Stand gegenüber. Der Vormittag läuft gut an. Über das große Brett, das sie in die Sonne gestellt haben, rollen sich ein Mann und dessen Tochter Murmeln zu. Das Spiel ist beliebt, also nehmen sie es zu Straßenfesten immer mit.
Bernd Katzschner gehört hier in Bad Schandau zum Alltag, so wie der Wanderkartenverkäufer und die Frau, die das Tomatenbrot bäckt.
In Sebnitz teilt sich der Verein Kaleb am Marktplatz ein Haus mit dem Deutschen Roten Kreuz. Katzschner nutzt die großen Räume für Vorträge und hilft bei den Hoffesten für Kinder und Familien – dafür schickt die Organisation junge Mütter mit Geldproblemen zu Kaleb, sagt ein Mann vom Roten Kreuz: „Ich weiß, dass Kaleb das besser kann als wir.“
An der Fensterscheibe von Katzschners Büro klebt die bunte Zeichnung eines Kinderwagens. Er berät hier Frauen, die sich fragen, ob sie ihr Kind bekommen sollen oder nicht. Er bietet ihnen Geldspritzen aus der „Lebenskasse“, wie er sie nennt: Spenden aus der Kleiderkammer und auch größere Zahlungen – von der Stiftung „Ja zum Leben“.
Im Klinikum Sebnitz liefern Kaleb und Kirche den Hebammen jedes Jahr Geschenkbeutel, die sie an junge Mütter verteilen – Babysöckchen und Prospekte. Nach einer Nachfrage der taz hat die Klinikleitung das untersagt.
Die Vertreter der Tea Party in den USA und der Alternative für Deutschland sprechen oft über dieselben Themen. Manchmal in ähnlichen Worten.
■ Abtreibung: „Eine Gesellschaft, in der die Rechte des ungeborenen Lebens nicht respektiert werden, kann nicht lange bestehen.“ (Rand Paul, 51, republikanischer Senator von Kentucky) „Das ungeborene Leben wird bei uns nicht angemessen geschützt, und die Abtreibung aufgrund dessen, was früher mal die psychosoziale Indikation hieß, halte ich für einen Frevel.“ (Bernd Lucke, 52, Parteisprecher der AfD)
■ Homo-Ehe: „Ich unterstütze eine Gesetzgebung, welche die Ehe als Konzept zwischen Mann und Frau definiert.“ (Herman Cain, 69, galt 2012 als möglicher Präsidentschaftskandidat) „Wir sind die Einzigen, die offen aussprechen, dass man Ungleiches nicht gleich behandeln sollte.“ (Konrad Adam, 72, Parteisprecher der AfD)
■ Migration: „Zuerst müssen wir unseren amerikanischen Mitbürgern dabei helfen, aus der Armut herauszukommen. Erst dann können wir uns um den Rest der Welt kümmern.“ (Sarah Palin, 50, war 2008 republikanische Kandidatin für das Vizepräsidenten-Amt) „Wir sind nicht das Weltsozialamt“ (Wahlplakat der AfD)
Wie steht der Bürgermeister von Sebnitz zu Kalebs Forderungen? Zum Abtreibungsverbot, zur Rücknahme des „Homogesetzes“? „Diese Frage ist für die Amtsausführung von Herrn Oberbürgermeister Mike Ruckh nicht von Belang“, schreibt dessen Sprecherin. Die Stadt zahle dem Verein eine „Mietstütze in Höhe von ca. 57 Prozent auf die Gesamtmiete“.
Die Kirchgemeinde hat den Sebnitzer Friedhof umgestaltet. Auf einer kurz geschnittenen Grasfläche zwischen Wildrosenbeeten stehen zwei aus Stein geschliffene Flügel. Kaleb hat sie bezahlt. Sie sollen an ungeborenes Leben erinnern. Im Sommer gibt es Freiluftgottesdienste.
Der Leiter der Sebnitzer Grundschule kommt immer. Bernd Katzschner feiert dann in dessen Schule Andachten. Eine „unproblematische Zusammenarbeit“, sagt der Schulleiter. Sein Kollege im Sebnitzer Gymnasium sieht es genauso: Die Schüler sollen „auch mal konträre Meinungen hören“.
Am Stand beim Kirnitzschtalfest hat Katzschner auch Material für Schüler dabei. Das Heft „Schlechte Zeiten, gute Seiten“ empfiehlt jungen Frauen: „Ja zum Baby“. In den Texten wird vor den Risiken von Verhütungsmitteln gewarnt und den „Teens und Twens“ Enthaltsamkeit bis zur Ehe vorgeschlagen: „Gewinner können warten“.
Katzschners Verbindungen reichen über Sachsen hinaus. Er fährt nach Wuppertal, hält einen Vortrag oder lädt den Leiter des Kasseler Sexualethikvereins Weißes Kreuz, der etwa die Heilung von Homosexualität diskutiert, nach Sebnitz ein.
Die Autoren der Webseite babycaust.de, die Abtreibungen eine Steigerungsform des Holocaust nennen, sortieren Kaleb in eine lange Liste von sogenannten Lebensschutz-Initiativen in ganz Deutschland.
Abtreibung, Homo-Ehe, Männer sollen Männer und Frauen Frauen bleiben dürfen. Dieselben Themen stehen auf der Agenda der Tea Party in den USA.
Die Angst vor der Moderne treibt die Konservativen auf beiden Seiten des Atlantiks um. Immer wieder berufen sich AfD-Politiker auf das Grundgesetz von 1949. Darin stehe etwa der Schutz der Familie. Erst später habe man begonnen, daran herumzuinterpretieren. Die Vertreter der Tea Party in den USA preisen die Verfassung der Vereinigten Staaten. Es ist eine Sehnsucht nach einer goldenen Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war.
Der große Einfluss der amerikanischen Tea Party beruht auf einem Phänomen, das man Echo-Effekt nennen kann. Blogs und Internetforen wiederholen Aussagen und angebliche Fakten so lange, bis große Medien, die mit der Tea Party sympathisieren, sie aufgreifen. Oft erfüllt der Fernsehsender Fox News diese Rolle. Dann diskutieren auch andere darüber und verbreiten die Themen so weiter.
Deutschland hat kein Fox News, kein Mainstreammedium, dass auf der Seite einer deutschen Tea Party stände. Die randständige rechts-konservative Junge Freiheit berichtet viel über die AfD und das konservative christliche Milieu. Es gibt kleine Blogs mit hohen Klickzahlen und eine evangelikale Nachrichtenagentur, aber sie alle schreiben bisher über eine Nische für eine Nische.
Einmal haben es die deutschen Erzkonservativen allerdings geschafft, ein Thema auf die Agenda der Mainstreammedien zu setzen: Anfang dieses Jahres in Baden-Württemberg.
Nagold ist eine Stadt wie ein Spitzendeckchen. Sauberes Fachwerk, Kopfsteinpflaster, Wanderwege, auf denen sich Besucher drängen, die den Schwarzwald erkunden wollen. Aufgeräumtes CDU-Land. Vor allem C-Land.
In Nagold sitzt die Gemeinde der offenen Tür und die Christus Gemeinde, die das „Evangelium in unsere Stadt tragen“ möchte und dazu gleich den Pfadfinderverein „Royal Rangers“ einspannt. Das Weiße Kreuz, das Homosexualität für behandelbar hält, hat mehrere Beratungsstellen zu „Sexualethik und Seelsorge“ in der Umgebung.
Gabriel Stängle passt gut in diese Gegend. Er gehört zur Prisma-Gemeinschaft, die in Hauskreisen gemeinsam die Bibel liest und im Schneeballverfahren Lehrer missioniert, damit sie den Gottesglauben an bundesdeutschen Schulen säen.
Als bekannt wurde, dass die Landesregierung Baden-Württemberg im Bildungsplan 2015 die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ verankern wollte, startete Stängle die Onlinepetition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“. Gegen die „pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung“ von Kindern.
Gabriel Stängle wurde für die einen der „Homo-Hasser aus dem Schwarzwald“, für die anderen zum leuchtenden Vorkämpfer gegen die „LSBTTIQ-Lobby“ und derjenige, der den Grundstein gelegt hat für eine „schlagkräftige Bürgerbewegung zum Schutz der Elternrechte“. So steht es im AfD-nahen Blog freiewelt.net. Stängles Petition war Plattform für Homophobe, Fundamentalchristen, Abtreibungsgegner, rechte Populisten, AfD-Anhänger, Neonazis. 192.000 Menschen unterschrieben. Stängle spaltete das Land.
Da sitzt er also, ein leiser Mann im Karohemd, das Handy im Aufnahmemodus neben dem Café Latte – zur Beweissicherung. Dem Südwestrundfunk habe er zwanzig Minuten lang die Etymologie von Toleranz ausgeführt im Unterschied zur Akzeptanz, aber in der Sendung sei doch nur wieder der „Homo-Hasser-Teil“ gekommen. Er ist skeptisch, was Medien angeht.
Zur Verstärkung hat Gabriel Stängle Engül Köhler mitgebracht, „wie Engel mit ü“, Petitionsunterstützerin der ersten Stunde, Ingenieurin, Türkin, sie lebt mit ihrem Mann und Jesus Christus in Egenhausen ein paar Kilometer entfernt. Der Protest gegen den Bildungsplan hat sie als Stellvertreterin des Bürgermeisters ins dortige Rathaus gebracht. Dabei habe sie gar nichts mit Politik am Hut. Sie lächelt.
Köhler spricht viel über „Gefühl“ und „Miteinander“. Dass auch die rechtsextreme NPD für die Unterzeichnung geworben habe, dafür könnten sie ja nichts.
Ist das Naivität? Berechnung? Wollen die beiden potenzielle Unterstützer nicht vor den Kopf stoßen? Gabriel Stängle sagt, er habe an Projekten zur KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen mitgewirkt, er sehe sich eher als Linken. Er vertrete auch „nicht alle extremen Positionen“, die da im Schatten seiner Petition auftauchten. Auch in den USA stehen in der Tea Party libertäre Politiker, die die Freigabe von Drogen und das Ende staatlicher Überwachung fordern, neben Predigern, die Andersgläubige in die Hölle wünschen. Viele verachten einander offen. Fromme Eiferer und Apologeten der Sittenstrenge geben den Ton an, aber die Tea Party hat Platz für alle. Auch für Leute wie Gabriel Stängle.
Stängle ist gelernter Feinmechaniker, hat vier Geschwister, kommt aus einer Familie, in der die Bibel Grundlage des Lebens war. So handhabt er das auch für seine drei Töchter. Er hat christliche Jugendarbeit gemacht, als er jung war, und weil er so gern mit Kindern arbeitete, wurde er Lehrer. Religion und Geschichte.
Prozent der US-Amerikaner finden Abtreibung inakzeptabel, in Deutschland sind es 19 ProzentQuelle: The Pew Global Attitudes Project
37
Prozent der US-Amerikaner finden Homosexualität inakzeptabel, in Deutschland sind es 8 ProzentQuelle: The Pew Global Attitudes Project
22
Prozent der Bevölkerung finden Scheidungen inakzeptabel, in Deutschland sind es 7 ProzentQuelle: The Pew Global Attitudes Project
84
Prozent der US-Amerikaner und 60 Prozent der Deutschen lehnen außereheliche Affären abQuelle: The Pew Global Attitudes Project
70
Millionen Evangelikale leben in den USA, in Deutschland sind es etwa 1,5 MillionenQuelle: taz-Recherchen
19.000
Mitglieder hat die Alternative für Deutschland. Die Tea Party hat etwa 550.000 AnhängerQuellen: „Issues in Governance Studies“, AfD
Stängle sieht sich als Demokrat in der neuen Bürgerbeteiligungsgesellschaft unter der grün-roten Landesregierung. „Ich bitte dich, diesen Aufruf zu unterstützen und unter dem angegeben Link zu ‚unterschreiben‘. Bitte leitet das Mail unten mit der Überschrift Radikalen Umbau des Bildungsplans stoppen! an Freunde, Bekannte und Interessierte. Herzliche Grüße – Gabriel Stängle“, schrieb er Ende 2013 in einer E-Mail an alle seine Kontakte. Die rechte Internetseite Politically Incorrect verlinkte die Petition, Lebensschützer, Pietisten, Charismatiker schickten sie über ihre Verteiler, der evangelikale Dachverband Deutsche Evangelische Allianz rief zur Unterzeichnung auf. Außerdem die Christdemokraten für das Leben und die Christen in der AfD.
Stängle aktivierte zur Verbreitung ein Netzwerk, das sich durch ganz Deutschland zieht. Eines, dessen Funktionäre mit aller Kraft für die Sache der Gottesgläubigen kämpfen und gegen die, die sich ihnen in den Weg stellen. Der SWR nahm einen Bericht über die Petition mit der Überschrift „Unterstützung vom rechten Rand“ nach massivem Druck aus dem Netz.
Gabriel Stängle sitzt in Nagold neben seinem Handy im Aufnahmemodus und sagt, dass er selbst nach den Presseberichten überrascht gewesen sei, wer alles zu den Bildungsplan-Demonstrationen kam. Dort sei es ja gar nicht mehr um den Bildungsplan gegangen, sondern um Homosexualität als Sünde. Um Anti-Gender-Mainstreaming.
Das ist der Echo-Effekt. Wenn sich ein Gerücht selbstständig macht.
Vier Anti-Bildungsplan-Demonstrationen gab es bisher in Stuttgart. Rund 1.000 Demonstranten trugen jedes Mal Plakate gegen Schwule und Lesben, gegen „Indoktrinierung“ und „Pornounterricht“, gegen die Landesregierung. Organisiert wurden die Demonstrationen zuerst von einem Ehepaar. Dann setzte sich die Initiative „Demo für alle“ aus Berlin an die Spitze der Bewegung. Nun kamen auch prominente Gäste wie Peter Hauk, der CDU-Fraktionsvorsitzender in Baden-Württemberg.
Demo für alle gehört zur Initiative Familienschutz, die wiederum vom Verein Zivile Koalition ausgeht. Der Vorstand: Beatrix und Sven von Storch.
Beatrix von Storch hat sich im Café Weltempfänger einen Capuccino bestellt. Bei der Frage nach der Tea Party rutscht sie wieder auf dem Sofa hin und her. „Mit dem Begriff Tea Party wird in Deutschland versucht, Emotionen zu schüren und Ablehnung hervorzurufen“, sagt sie. Ihr ist die Tea Party zu schrill. Sarah Palin nennt sie eine Knalltüte.
Tatsächlich erreichen die Politiker ihrer Partei selten die Tonhöhen, in denen prominente Vertreter der Tea Party ihre Botschaften in die Welt hinausschreien. Wie der ehemalige Pastor Rick Scarborough, als er sagte, eher führe Homosexualität zu Aids als Rauchen zu Krebs. Auch der Rassismus der Tea Party ist bei der AfD verdeckter, obwohl die Partei ehemalige Mitglieder rechtsradikaler Parteien wie der „Freiheit“ und der „Republikaner“ in ihren Reihen hat und manche ihrer Slogans an die der NPD erinnern. Im Europaparlament wollte die Parteispitze nicht mit der rechtsextremen britischen Ukip in eine Fraktion, sie wartete, bis die britischen Konservativen von Premierminister David Cameron sie mitmachen ließen.
Was nicht heißt, dass man sich nicht an der Tea Party orientieren kann: „Die größte Ähnlichkeit zwischen AfD und Tea Party mag sein, dass auch wir von einer Graswurzelbewegung getragen werden“, sagt Beatrix von Storch. Sie hat selbst lange in solchen Bewegungen gearbeitet.
Die AfD selbst ist keine Bewegung von unten. Ein Gründungsparteitag stimmte eilig das nur wenige Punkte umfassende Programm ab, dann war auch schon Bundestagswahl. Das Chaos, das dazugehört, wenn in einer neuen Partei verschiedene Gruppen um Einfluss kämpfen – wie bei den Grünen, den Piraten oder der WASG –, es hielt sich in Grenzen.
Aber die Alternative für Deutschland könnte ein Kristallisationspunkt für Menschen werden, denen der Weg Deutschlands in der Moderne missfällt. Gut organisierte Netzwerke frommer Christen können der AfD als Wahlhelfer dienen, für ihre Veranstaltungen und Anliegen mobilisieren. Die Partei kann die Themen dieser Gruppen in die Parlamente, auf die große Bühne tragen. Und so dafür sorgen, dass sie mehr Öffentlichkeit bekommen. So wie die Linke, wenn sie mit Antifa-Gruppen und Globalisierungsgegnern zusammenarbeitet. Kann man sich von denen etwas abschauen, Frau von Storch? „Ich bin immer dafür, zu lernen, egal von wem“, sagt sie.
■ Anna Hunger, 33, ist freie Journalistin in Stuttgart
■ Kristiana Ludwig, 26, ist taz-Redakteurin
■ Daniel Schulz, 35, ist sonntaz-Redakteur
■ Stefanie F. Scholz, 31, arbeitet als freie Illustratorin in Berlin