: Tanz jenseits der Grenzen
CHOREOGRAFIEN Das Festival „Tanztheater International“ in Hannover widmet sich den Spuren, die politische und private Grenzziehungen im Körper hinterlassen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Produktionen aus Israel
VON ROBERT MATTHIES
Allein steht der israelische Tänzer und Choreograf Hillel Kogan im Licht, balanciert auf einem Bein – eine Haltung so prekär wie das Thema seines Stücks „We Love Arabs“, das am kommenden Samstag im Rahmen des Festivals „Tanztheater International“ in Hannover zu sehen ist. Dann bricht er abrupt ab, spricht zögerlich zum Publikum: „Wo wir im Raum stehen, definiert die Weise, wie wir uns bewegen. Aber der Raum, der ich nicht bin, gehört einem Araber. Wie kann ich damit umgehen?“ Kurz darauf betritt sein kongenialer arabischer Kollege Adi Boutrous die Bühne.
Zwischen beiden entspinnt sich ein immer absurder werdendes Frage-und-Antwort-Spiel. „Wir müssen uns gegenseitig identifizieren“, fordert Kogan und Boutrous malt ihm einen Davidstern aufs T-Shirt. Als Antwort bekommt er einen Halbmond auf die Stirn – „Aber ich bin Christ!“ „Lass uns improvisieren“, schlägt Kogan vor. „Kontaktimprovisation“, entgegnet sein Gegenüber. „Nein, kein Kontakt. Zeig mir nicht, was für ein Tänzer du bist. Zeig mir, was für ein Mensch du bist.“
Irgendwann fällt die Fassade, die Distanz verschwindet und die beiden beginnen sich gegenseitig mit Hummus zu beschmieren – mit jenem Kichererbsenpüree, das beide Kulturen so lieben. Auch das Publikum bekommt etwas ab. Eine schlichte Kommunion, so verträumt naiv wie das Hin und Her zuvor unerbittlich war.
Lebendige Tanzszene
Für seine böse Persiflage auf die politische Situation in Israel – und auf seinen Berufsstand als Choreograf – ist Kogan im letzten Jahr vom dortigen Kritikerverband als „Outstanding Creator“ geehrt worden. Kogan, Probendirektor des Nachwuchs-Ensembles der renommierten Batsheva Dance Company, steht dabei beispielhaft für neue Tendenzen in der aufblühenden Szene. Wo man sich noch vor ein paar Jahren mit martialischer Physikalität an der Bedrohung und Militarisierung der Gesellschaft abgearbeitet hat, geht es heute oft um eine ironische Beschäftigung mit sich selbst und eine Hinwendung zu privaten Beziehungen.
Dramaturgisch und tänzerisch war „We Love Arabs“ für viele im letzten Jahr die eindrucksvollste Arbeit der „International Dance Exposure“ in Tel Aviv. Das weltweit viel beachtete Festival im Suzanne Dellal Center for Dance and Theatre ist die große jährliche Leistungsschau der israelischen Tanzszene. Wer es geschafft hat, hier durch die strenge Vorauswahl zu kommen, hat gute Chancen, bald in Europa und den USA touren zu können.
Gleich vier israelische Produktionen hat Christiane Winter, die „Tanztheater International“ seit dem Ende der 1980er und seit etlichen Jahren im Alleingang kuratiert, dieses Jahr nach Hannover eingeladen – ein Drittel der zwölf gezeigten Stücke. Neben Kogan und Boutrous sind das Ensemble L-E-V der Batsheva-Tänzerin und -Choreografin Sharon Eyal und des Techno-Musikers Gai Behar, Niv Sheinfeld und Oren Laor sowie die Vertigo Dance Company zu sehen.
Dass der Schwerpunkt auf Arbeiten aus Israel liegt, sei so aber nicht von vornherein geplant gewesen. „Ich hatte einfach das Glück, bei meinem Besuch in Tel Aviv drei wirklich gute Produktionen zu sehen“, sagt Winter.
Vielfältige Grenzen
Thematisch hat Winter ihre Recherche zu soziopolitischen Aspekten von Tanz erweitert. Seit 2011 interessiert sie sich für Fragen von Integration und Fremdheit, für die neue Bedeutung urbaner Tanzformen und das soziale Miteinander, das sich im Tanz auf ganz unterschiedlichen Ebenen ausdrückt. Dieses Jahr rückt das Festival die Frage in den Mittelpunkt, wie politische und private Grenzziehungen ihre Spuren im Körper hinterlassen.
Das Thema Grenzen ziehe sich in vielfältiger Form durch das Programm. „Bei Hillel Kogan ist es ganz klar. Da geht es um Grenzen zwischen zwei Personen unterschiedlicher Herkunft“, sagt Winter. „Bei L-E-V wiederum sind es starke Individuen, die in einer Gemeinschaft leben. Wo fängt da die Grenze an, wo hört sie auf? Wird sie gesetzt, wird sie nicht gesetzt?“
Wichtig ist Winter, nicht nur aktuelle Produktionen zu zeigen, sondern auch Kontinuität abzubilden. „Herausragende Künstler sollte man über einen längeren Zeitraum begleiten, damit das Publikum auch Veränderungen wahrnehmen kann“, sagt sie. Erneut zu Gast sind dieses Jahr etwa Kurt Klaßen und Monika Gintersdorfer mit ihrer am Theater Bremen entstandenen Produktion „Not Punk, Pololo“.
Ein Wiedersehen gibt es auch mit dem französischen Choreografen Mickaël Phelippeau, der mit einem Solo für den 15-jährigen Ethan zu Gast ist. Entdeckt hat er den Jungen bei einem kleinen Tanzfestival für Amateure, bei dem er als Selbstporträt tanzte, was er mag: Mathematik zum Beispiel. Beeindruckt sei sie gewesen, sagt Winter, wie Phelippeau es schaffe, aus einem Laien viel herauszuholen und ihn zugleich als Mensch sein zu lassen, wie er ist.
Nachwuchsförderung
Zum dritten Mal richtet Tanztheater International in diesem Jahr sein Residenzprogramm „Think Big“ aus, das in Zusammenarbeit mit dem Ballett der Staatsoper drei jungen ChoreografInnen die Möglichkeit gibt, mit einem neunköpfigen Ensemble eine Produktion zu erarbeiten. Diesmal wurden der in Darmstadt arbeitende Spanier Miquel G. Font, die in Kassel lebende New Yorkerin Shannon Gillen und Robert Przybyl aus Bremen eingeladen. „Für alle Choreografen ist es eine große Herausforderung, mit einer großen Gruppe arbeiten zu können“, sagt Winter. „Das ist in der freien Szene, aber auch an Staatstheatern kaum möglich.“
■ Do, 4. 9. bis Sa, 13. 9., Hannover. www.tanztheater-international.de