Frühe Versehrung

DOKUMENTARFILM „Kleinstheim“ von Chris Wright und Stefan Kolbe porträtiert einfühlsam Jugendliche, die in einer betreuten Wohngemeinschaft leben

Manchmal ist eine Rede zu persönlich, als dass man das Bild dazu sehen sollte

Sarah war acht Jahre alt, als sie zur Polizei ging. Ihre Eltern hatten sie geschlagen, der Vater und die Stiefmutter, das brachte sie zur Anzeige. Die leibliche Mutter starb, da war Sarah noch ein Baby. Inzwischen ist sie zwölf Jahre alt und lebt im Heim. Sie hat eigentlich nur einen großen Wunsch: dass ihr Vater sich öfter meldet. Doch der ist einer der vielen Abwesenden im Dokumentarfilm „Kleinstheim“ von Chris Wright und Stefan Kolbe. Die beiden Filmemacher erzählen von einer Reihe von Kindern und Jugendlichen, die in Krottorf in Sachsen-Anhalt in einem ehemaligen Schloss in einer betreuten Wohngemeinschaft leben.

Monique, die Älteste, ist am Ende 20 Jahre alt und guten Mutes, dass sie ins Leben zurückgefunden hat. Adriano, der schon mehrmals Probleme mit Drogen hatte, ist am Ende nicht mehr da. Es geht um einfache, unendlich schwierige Dinge: den Hauptschulabschluss nachholen, einen Berufswunsch haben. Nicht zuschlagen, wenn man erregt ist. Bei all dem steht ein Satz als Perspektive und Frage im Mittelpunkt, der in „Kleinstheim“ gegen Ende fällt: „Kann man von einer unglücklichen Kindheit wegkommen?“ Dass soziale Umstände nicht Schicksal sein müssen, ist eines der grundlegenden Motive moderner Gesellschaften. Sarah, Monique, Peggy, Nancy, Adriano und all die anderen Jugendlichen, die in dem Film auftauchen, können auf ihre Familien nicht in dem Maß zählen, wie sie es brauchen würden.

„Arbeitslos? Logisch“, sagt Adriano über seine Mutter, von dem Defätismus, der dabei hörbar wird, kann er nur sehr schwer loslassen. Chris Wright und Stefan Kolbe legen bei all dem keine Dossiers an, sie filmen junge Leute, keine Fälle. Das Motiv dieses Films ist nicht, Sozialarbeit auf einer anderen Ebene zu betreiben (auch wenn die Grenzen zum Personal in kritischen Situationen manchmal durchlässig werden, wenn die Filmemacher eingreifen und Gewalt verhindern müssen). In „Kleinst-heim“ sehen wir, wie Sarah und ihren MitbewohnerInnen geholfen wird, sofern sie sich helfen lassen.

Die Stimmung des Films ist intim und getragen von klugen Verschränkungen von Bild und Ton – manchmal ist eine Rede zu persönlich, als dass auch noch das Bild dazu zu sehen sein sollte, manchmal sind Betrachtungen über die Menschen im Allgemeinen, wie sie in der Schule vorgetragen werden, ein Reflexionsmoment, das auf den ganzen Film ausstrahlt. In Kamera, Ton, Montage, Tonmontage ist „Kleinstheim“ ein sehr schönes Beispiel dafür, was das dokumentarische Kino durch die neuen Technologien erreichen kann – einen professionellen Standard, der ganz und gar nicht industriell ist. Wright (Ton und Montage) und Kolbe (Bild und Produktion) bilden das kleinstmögliche Team, das in so einem Zusammenhang möglich ist, und sie holen das Optimum heraus: einen auf vermittelte Weise höchst politischen Film, der seine Implikationen nicht mehr selbst formuliert, sondern seinen Protagonisten die Treue hält.

Es geht um sie, sie sind keineswegs Anschauungsmaterial in einem anderen Diskurs. Bei einer Jugendweihe öffnet sich dann einmal der Blick auf den größeren Zusammenhang dieser Biografien: Durch „Kleinstheim“ wissen wir nun über das Einzugsgebiet von Magdeburg genauso viel, wie wir – zum Beispiel – über Halle-Neustadt von Thomas Heise oder über Neukölln von Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert wissen. Das deutsche dokumentarische Kino ist lebendiger denn je in seine feinen Ausdifferenzierungen. „Kleinstheim“ wird beim Festival „achtung berlin“ gezeigt und läuft auch in einigen Kinos an.

BERT REBHANDL

■  „Kleinstheim“. Regie: Chris Wright und Stefan Kolbe. Dokumentarfilm, 87 Minuten, Deutschland 2010; Vorführtermine unter: www.achtungberlin.de