: Der Staffelstab des Erzählens
LITERATUR Fragen, die erst gar nicht gestellt, Antworten, die nicht gegeben werden: Nino Haratischwili erzählt von berühmten Konditoren, sozialistischen Verkrustungen und dem Wunsch nach Flower-Power – der große Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“
VON CHRISTIANE PÖHLMANN
In der Musiktruhe wirklich überflüssiger Lieder gibt es eines, das heißt: „Ich will keine Schokolade“. Gut, die Sängerin formuliert klar ihre Wünsche, was sie stattdessen lieber hätte – aber hat sie auch genau bedacht, worauf sie da alles verzichtet?
„Schokolade war nur noch ein Andenken an eine andere Epoche, und ohne Schokolade vergaß man die Süße und ohne Süßes vergaß man die Kindheit und ohne Kindheit vergaß man den Anfang und ohne den Anfang erkannte man nicht das Ende.“ Dieser Ansicht ist jedenfalls Niza, die Icherzählerin in Nino Haratischwilis neuem Roman, „Das achte Leben (Für Brilka)“. Schokolade als Symbol für ein Leben, zu dem es unabdingbar gehört, sich der eigenen – familiären wie historischen – Vergangenheit bewusst zu sein.
Was also bedeutet es, wenn die Schokolade verschwindet? Niza, Nachfahrin einer Schokoladen-Dynastie, muss es wissen. Ihr Ururgroßvater war in Georgien ein legendärer Konditor. Mit seinen raffinierten Erzeugnissen wollte er zunächst die Hauptstadt Tbilissi und von dort aus vielleicht auch das große russische Nachbarland erobern. Es kam anders. Russland, das schon im 19. Jahrhundert seine Finger begehrlich nach dem Land am Schwarzen Meer ausgestreckt hatte, konnte es als Sowjetunion im 20. Jahrhundert schlucken. Der Ururgroßvater wurde enteignet. Schokolade verschwand oder wurde zumindest zu einem billig hergestellten Massenprodukt ohne jede Raffinesse degradiert. Die sozialistische Tristesse hielt Einzug.
Mit dem Verschwinden der Schokolade gehen auch Erinnerungen verloren. Schweigen breitet sich aus. Niza sieht ihren Anfang nicht mehr – und fängt an, der Geschichte ihrer Familie, ihres Landes und des 20. Jahrhunderts nachzuspüren, um sie ihrer zwölfjährigen Nichte Brilka zu erzählen. Oder aufzuschreiben, die Frage bleibt in der Schwebe, braucht aber auch nicht entschieden zu werden, weil gerade diese absolut überzeugend ausgestaltete Offenheit dem Roman nur guttut.
Man muss es ja erst einmal schaffen, ein Jahrhundert spannend zu gestalten, wenn Eckpunkte dieser Geschichte bekannt sind (oder mit einem „ach ja, hab ich auch schon mal was von gehört“ als bekannt ausgegeben werden). Nino Haratischwili hat das geschafft, dieser Roman ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend. Ihre eigene Biografie dürfte in diesem Fall vielleicht keine geringe Rolle spielen. 1983 in Georgien geboren, kennt sie die eigentliche Sowjetzeit nicht, ist in der Perestroika aufgewachsen, hat den Zerfall der UdSSR erlebt. Dies, auch das wohl entscheidend, aus einer Doppelperspektive, denn Haratischwili lebt seit 2003 in Hamburg, kennt Osten und Westen. Dennoch war nicht Wissen, sondern Nichtwissen Ausgangspunkt für den Roman: Haratischwili gestand sich ein und sprach später in Interviews darüber, sie sei sich irgendwann ihrer Wissenslücken in puncto Geschichte des 20. Jahrhunderts bewusst geworden. So hat sie denn recherchiert, Material zusammengetragen und in eine literarische Form gebracht, die nur zu bewundern ist.
Zunächst ist da die Erzählsituation. Niza schwankt immer wieder zwischen quasi mündlicher und schriftlicher Form. Beides hat Vorteile. Dem Schreiben kann jene Recherche vorausgehen, die ja auch Haratischwili zuvor angestellt hat; tatsächlich erwähnt Niza verschiedene Quellen, kann also Erlebtes, Gehörtes und Gelesenes kombinieren. Wendet sich Niza jedoch sozusagen mündlich an ihre Nichte, unterstreicht dies den dringenden Wunsch, die Geschichte(n) loszuwerden. Das Erzählen hat dann etwas Soghaftes, das sich in ebendieser Weise auf die Lektüre auswirkt: als Sog. Obendrein spricht Niza Brilka immer wieder direkt an, sucht das Gespräch über Anfang, Mittendrin und Ende mit ihr, will Fragen stellen. „Und ich werde dir meine Frage stellen und du wirst mir deine Antwort geben.“
Fragen und Antworten sind ohnehin eines der zentralen Themen in diesem Roman. Fragen, die nicht gestellt werden, Antworten, die nicht gegeben werden – eine der großen Stärken des Buches liegt darin, Schweigen auszugestalten. Beispielsweise nach Chruschtschows Geheimrede, bei der erstmals die Verbrechen der Stalinzeit benannt wurden. Eine unerwünschte Wahrheit, worauf in Tbilissi gleich Studenten auf die Straße gingen, hatte er, der Ukrainer, ihren „großen Landsmann“ doch vom Sockel gestoßen. Die Phase des Tauwetters war dann ja auch schnell wieder vorbei.
Was Niza dennoch bzw. auch über das Schweigen in Erfahrung gebracht hat, stellt sie zu einem in acht Bücher unterteilten Roman zusammen. Jedes Buch ist einem Familienmitglied gewidmet, das letzte, das achte, Brilka. Dies ist noch leer, ungeschrieben, doch ist diese leere Seite hier tatsächlich mehr als literarische Macke. Niza gibt den Staffelstab des Erzählens weiter an ihre Nichte, sie hat ihre Frage gestellt, die Antwort steht aus.
Die Aufgabe, diese Stofffülle zu präsentieren, hat Nino Haratischwili in ihrem dritten Roman in bewundernswerter Weise und höchst souverän gemeistert. Nie wirkt das Ganze zu wuchtig. Die Figurenzahl ist überschaubar, die Charaktere komplex. Realien und historische Ereignisse bilden da schon eher ein Wimmelbild. Momente rein episodischen Charakters wechseln geschickt mit wiederkehrenden Motiven ab, von denen eines eine geheimnisumwobene Heiße Schokolade ist, deren ebenfalls geheimnisumwobenes Rezept auf besagten Ururgroßvater zurückgeht. Vor allem aber ist die Präsentation dieses Materials nie – niemals – protzend, oberlehrerhaft, besserwisserisch oder angeberisch nach dem Motto: Seht her, was ich mir alles angelesen habe! Wenn es nicht missverständlich klänge, ließe sich von einer bescheidenen Präsentation sprechen. Die obendrein zur Glaubwürdigkeit der Icherzählerin beiträgt.
Diese Icherzählerin wurde 1973 geboren, ist also zehn Jahre älter als Haratischwili und hat entsprechend mehr von der Sowjetzeit abbekommen. Sie leidet stärker als andere Familienmitglieder unter der Tristesse. Tbilissi als Paris des Kaukasus – die Zeiten waren ebenso vorbei wie die der Schokoladenfabrik des Ururgroßvaters. Es ist vor allem dieses Triste, es sind all diese Verkrustungen und Normierungen, gegen die sie aufbegehrt. Ihre Sehnsucht ist eher die nach ein wenig Flower-Power im eleganten Pariser Gewand, ein wenig Montmartre am Rustaveli-Boulevard. Irgendeine gesellschaftliche Utopie hat sie in der Realität gewordenen Utopie UdSSR nicht mehr.
Auch das schlägt sich in der Erzählung nieder. Es gibt zwar überzeugte Kommunisten, im Grunde sind sie aber nur opportunistische Karrieristen. Und auch wenn Icherzählerin und Autorin nicht gleichzusetzen sind, dürfte sich hier Haratischwilis eigene Erfahrung widerspiegeln: dass eine kommunistische Überzeugung je etwas anderes gewesen sein konnte als Kalkül – mal notwendiges, mal der Machtgier geschuldetes –, scheint in der postsowjetischen Gesellschaft undenkbar.
Zum Schluss ein Wort zur Seitenzahl. An dem Roman hat Haratischwili lange gearbeitet, noch länger hat das Thema in ihr gegoren. Herausgekommen ist ein dickes Buch. 1.280 Seiten. Einzelnes mag man bereits in anderen – kürzeren – Romanen gelesen haben. Hier jedoch kommt es zu einem Ganzen, das sich aus der Kollektivierung ebenso zusammensetzt wie aus dem wilden Kapitalismus, aus Bürgerkrieg und Katyn, aus der Blockade und dem NKWD, aus Frauenbild und Homosexuellen in Russland und Georgien, aus …
Und es ist wirklich ein Ganzes, denn es behandelt die Einzelteile gleichberechtigt. Kann die Lektüre eines solchen Textes nicht ruhig mal ein bisschen länger dauern? (Im Übrigen sollte man gleich noch ein bisschen mehr Zeit einplanen, weil so vieles nachhallt.) Diesem Roman zumindest könnte kaum etwas Ungerechteres passieren, als dass die schiere Seitenzahl Berührungsängste auslöst.
■ Nino Haratischwili: „Das achte Leben (Für Brilka)“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2014, 1.280 Seiten, 34 Euro