INTEGRATION : Irgendeine Frau
Der türkische Bäcker bei ihm um die Ecke sei heute derart außer sich gewesen, erzählt M., dass er nicht einmal mehr in der Lage war, den Preis von zwei Schrippen und zwei Croissants korrekt zusammenzurechnen. Dieser Mann, der übrigens supernett sei und ihm, M., als er dort noch völlig fremd war und nur 20 Cent dabeihatte, einfach gesagt habe: „Kannst beim nächsten Mal zahlen“, habe ihm, M., erzählt, dass er in großen Schwierigkeiten stecke. Möglicherweise sei sogar der gesamte Familienbetrieb, ein beliebter Kieztreffpunkt, für den die Betreiber seit Jahr und Tag siebenmal die Woche ab sechs Uhr morgens im Laden stehen, gefährdet.
Vor etwa einem Jahr nämlich, so der Bäcker weiter, habe er mal eine Faust voll alter Brotkrümel genommen und für die Vögel vor die offene Ladentür geschmissen. Dort sei irgendeine Frau gestanden.
Nun ist irgendeine Frau nicht unbedingt irgendeine Frau. Fast immer bleibt sie es zwar – ein anonymer Sekundeneindruck, der auf der Stelle wieder verblasst. Doch manchmal wird aus irgendeiner Frau eine bestimmte Frau und es entwickelt sich für Wochen, Monate oder gar Jahre eine gemeinsame Geschichte aus Verstehen oder Missverstehen, tiefer Zuneigung oder brennender Leidenschaft, Vertrauen oder Verrat, Festhalten oder Loslassen, blinder Geilheit, atemlosen Glücksmomenten, Liebe, Leid, Schmerz, Enttäuschung oder Wahnsinn.
Bei dieser Frau war es jedenfalls eher so ein Mittelding: Sie fotografierte unseren Bäcker beim Bröselwerfen, der daraufhin heute einen Brief vom Landeskriminalamt erhielt. In diesem wurde er zu einem Gespräch vorgeladen wegen eines Verstoßes „gegen das Lebensmittel- und Tierfuttergesetz“. Es bleibt nur zu hoffen, dass das Gespräch aus der bislang offenbar nur oberflächlichen Integration des Täters eine tiefgehende macht.
ULI HANNEMANN