: „Wirklich soziale Demokratie“
NRW-FDP-Generalsekretär Christian Lindner will die Liberalen beim morgigen Landesparteitag in Hamm sozialer machen. Mit dänischen Methoden sollen mehr Bildungschancen und Jobs her
Beim morgigen Landesparteitag der NRW-FDP in Hamm geht es um sein Thema: Die freidemokratische Sozialpolitik. Christian Lindner, Jahrgang 1979, will an die liberale Hochzeit „Freiburger Thesen“ anknüpfen – und schließt sozial-liberale Bündnisse nicht aus. Dem NRW-Landtag gehört der gebürtige Wuppertaler seit dem Jahr 2000 an. Generalsekretär der Landes-FDP ist er seit November 2004. Der Politikwissenschaftler ist Oberleutnant der Reserve. Zudem war er in der Hochphase der „New Economy“ Gründer eines später gescheiterten Internet-Unternehmens.
INTERVIEW ANNIKA JOERES UND MARTIN TEIGELER
taz: Herr Lindner, Sie waren ja mal Start-Up-Unternehmer. Verraten Sie uns: Wann platzt die Blase der NRW-FDP?
Christian Lindner: Der Neuen Markt damals war mit großen Erwartungen gestartet – und hat dann in der Realität enttäuscht. Bei der NRW-FDP ist das andersrum. Wir sind bei der Landtagswahl auf niedrigem Niveau gestartet – bei 6,2 Prozent – und bekommen jetzt mehr Zustimmung für unsere Regierungsarbeit.
In Umfragen liegen Sie bei zehn Prozent. Ist das realistisch oder zu hoch bewertet?
Das sind Momentaufnahmen.
Planen Sie ein neues Projekt 18 wie damals Möllemann?
Nein, wir haben auch als FDP Lebenserfahrung gewonnen.
Ihr Fraktionschef Gerhard Papke hat das Thema Patriotismus entdeckt – ähnlich wie früher Möllemann. Entwickelt sich die FDP wieder in diese Richtung.
Es geht nicht um eine Richtungsdebatte. Gerhard Papke weist darauf hin, dass eine Gesellschaft ein positives Gefühl für sich selbst braucht – übrigens auch, um Menschen zur Integration einzuladen. Wir holen diese Debatte aus der miefigen und muffigen Ecke, in die die deutsche Linke dieses Thema abschieben will. Den „deutschen Selbstekel“, von dem Thomas Mann gesprochen hat, sollten wir ad acta legen.
Sind Sie ein Patriot?
Ich habe mit diesem Begriff kein Problem. Für mich ist ein aufgeklärter, fröhlicher Patriotismus die Voraussetzung dafür, auch in Europa eine Heimat zu finden.
Sie meinen einen Patriotismus à la Fußball-WM?
Wir haben im Sommer 2006 zumindest gesehen, dass man auch ungezwungen mit der eigenen Gesellschaft umgehen kann. Das hatte nichts Dumpfes, keinen Chauvinismus.
Herr Papke will gerade jungen Leuten die deutsche Geschichte und Kultur nahe bringen. Dabei hat die Filbinger/Oettinger-Debatte doch gerade wieder gezeigt, dass das nicht so einfach ist mit der deutschen Geschichte.
Die Deutschen haben aus ihrer Geschichte gelernt. Wir sind in der Lage, eine demokratische Gesellschaft zu bilden. Es gibt eine kritische Öffentlichkeit, die auf Verirrungen wie die von Oettinger umgehend reagiert.
Ihre FDP-Parteifreunde in Baden-Württemberg koalieren mit Oettinger.
Die FDP hat keinen Zweifel daran gelassen, dass das inakzeptabel war, was Oettinger gesagt hat. Gut, dass er sich von seinen Äußerungen distanziert hat.
Was heißt Patriotismus? Sollen die NRW-Schüler die Nationalhymne singen?
Das ist keine Sache des Staates oder der Politik, das ist die Sache eines jeden Einzelnen. Sie können nicht befehlen, sei patriotisch oder sei glücklich.
Wollen Sie rechte Wähler?
Nein. Nichts läge uns ferner.
Ein anderer Schwerpunkt Ihres Landesparteitags wird neben dem Patriotismus...
Der Patriotismus wird kein Schwerpunkt des Parteitags sein.
Herr Papke hat das Thema für seine Grundsatzrede doch groß angekündigt.
Das wird sicher nur ein Aspekt seiner Rede sein. Das Soziale ist der Schwerpunkt.
Sie schlagen vor, den Kündigungsschutz zu lockern. Was ist daran neu und sozial?
Seit unseren „Freiburger Thesen“ verstehen wir unter Freiheit faire Lebenschancen. Der Kündigungsschutz verhindert aber Beschäftigung und mindert damit die Chancengerechtigkeit für die Menschen ohne Arbeit.
Verminderter Kündigungsschutz gehörte 1971 nicht zu den damals fortschrittlichen „Freiburger Thesen“.
Die Zeiten haben sich verändert. Wir schauen auf andere Länder wie Dänemark und Österreich und prüfen, ob sie bessere Wege in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik gefunden haben. Konservative Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland und Frankreich schneiden bei der Arbeitslosigkeit viel schlechter ab. Dänemark etwa kombiniert einen hochflexiblen Arbeitsmarkt mit einer solidarischen Absicherung für Arbeitslose.
Die Dänen zahlen mehr Arbeitslosenunterstützung als Deutschland – aber Sie wollen für die Bundesrepublik nur den schlechteren Kündigungsschutz übernehmen.
Entscheidend ist, dass die Menschen in Dänemark das hohe Schutzniveau selten nutzen müssen. Bislang hat man sich in Deutschland damit zufrieden gegeben, Sozialpolitik mit guten Motiven zu machen – auch wenn die Ergebnisse dieser Politik dann schlecht waren. Wir wollen beste soziale Ergebnisse.
Wollen Sie eine soziale Politik oder ein besseres soziales Image mit alten Ideen?
Wir müssen uns nicht neu erfinden und brauchen auch keine PR-Veranstaltung. Die FDP ist die einzige Partei der sozialen Marktwirtschaft. Selbst die Union hat sich von ihren ordnungspolitischen Prinzipien getrennt, dass es einen Schaudern lässt.
Kein neues Image, aber ein neuer Tonfall? Guido Westerwelle verzichtet neuerdings darauf, Gewerkschaftsfunktionäre zu bashen. Lehnen Sie die organisierte Arbeitnehmerschaft nicht mehr ab?
Die haben wir nie abgelehnt. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie ist ja mit der FDP in der sozialliberalen Ära erst vitalisiert worden. „Mehr Demokratie wagen“ – das war ja nicht nur Willy Brandt, sondern auch die FDP. Wir stehen für Beteiligungschancen von Belegschaften und Arbeitnehmerinteressen ein, aber nicht für Organisationsinteressen von Gewerkschaften.
Beim Thema Bildung sorgen Sie in NRW auch nicht für mehr Chancen. Die Studiengebühren lassen die Zahl der Studierenden sinken.
Ich will nicht bestreiten, dass es da einen Effekt gibt. Aber keinen dramatischen Rückgang. Wir wollen mehr Absolventen haben, nicht mehr Studierende.
Das bedingt sich doch.
Nicht unbedingt. Bislang haben 30 Prozent der Studierenden keinen Abschluss gemacht.
...und Sie meinen, diejenigen die sich jetzt nicht einschreiben, hätten keinen Abschluss gemacht?
Wir machen doch hier keine Rabulistik. Ich will neben Bildungsquantität auch ihre Qualität berücksichtigen. Die Langzeitgebühren der Wissenschaftsministerin Kraft hatten zu zwölf Prozent Rückgang geführt. Selbstverständlich werden wir jetzt wieder einen gewissen Prozentsatz an Studenten haben, die Konsequenzen ziehen – aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht ist gar kein ernstes Interesse mehr da, aber der öffentliche Nahverkehr und andere Vergünstigungen waren noch attraktiv? Frühestens im Juni können wir etwas über den Rückgang sagen.
Mit wie hohen Verlusten rechnen Sie denn?
Im einstelligen Bereich. Die Selektion fängt doch viel früher an, schon im Kindergarten oder in der Schule.
Dieses System wollen Sie doch auch nicht ändern.
Selbstverständlich, zum Beispiel mit frühen Sprachkursen. Dadurch wird Herkunftsorientierung durchbrochen. Wenn sie Kinder aus einer Einwandererfamilie ohne deutsche Sprachkenntnisse einschulen, werden sie es nur selten zum Abitur schaffen. Ich hoffe, dass die Studierenden bald die Qualitätsverbesserung bemerken und dann sogar aktiv unterstützen. Die sind nämlich sozial.
Und am Ende sind Sie wieder bereit für eine sozial-liberale Koalition?
Als unabhängige Partei entscheiden wir über Koalitionsfragen auf der Basis unseres Programms. Da gilt es nüchtern zu analysieren, mit dem wir mehr liberale Inhalte realisieren können. Gegenwärtig gibt es trotz allem noch die größten Gemeinsamkeiten mit der Union. Die SPD ist doch orientierungslos. Es gibt die bürgerliche SPD von Kurt Beck und die linken Phantasien von Wowereit und Kraft. Die Reformpolitik für eine wirklich soziale Demokratie machen ohnehin wir. Und sagen Sie es keinem weiter: Was die Liberalen in NRW fordern, wird in anderen europäischen Ländern als sozialdemokratisch bezeichnet.