: Der Würger vom Ennepetal
Mit sechs Jahren komponierte er bereits. Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) war eines der größten Wunderkinder der Geschichte. Paul Esterhazy inszeniert seine Oper „Die tote Stadt“ in Hagen
VON FRIEDER REININGHAUS
Der Hagener Theater-Intendant stellte sich zum Auftakt der Premierenfeier auf die Treppe zum Erfrischungsraum. Sein Auftritt erinnerte an das Pfeifen des einsamen Mannes im dunklen Wald, der sich versichert, er habe wirklich keine Angst. „Die tote Stadt“, so betonte er nachdrücklich, beziehe sich auf gewisse Dekadenzerscheinungen in Brügge im späten 19. Jahrhundert. Mit dem heutigen Hagen habe die Geschichte Gottseidank nichts zu tun. Eine halbe Stunde raten uns ein paar mit türkischem Akzent sprechende Jugendliche ab, in eines der Lokale in der Bahnhofsstraße zu gehen: Das ist hier nix! Es folgen suchende Blick, ob es eine Alternative gibt - und rasch ein entschiedenes Nein: „Hier ist es doch tot“. Der Augenschein straft dieses Fazit auch an einem frühsommerlich schönen Samstagabend nicht Lügen.
Die neue Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds bekanntestem Werk - zuletzt stand „Die tote Stadt“ in Hagen 1928 auf dem Spielplan - vermied alle sichtbaren Anspielungen auf die unmittelbare Gegenwart. Um vordergründige Analogien ging es Paul Esterhazy wohl auch nicht. Der Regisseur, 2000-2005 in Aachen Theater-Intendant, rückt die Handlung in die Mitte zwischen heute und der Entstehungszeit des 1916-1920 geschrieben Werks. Das vom Vater des Komponisten, dem Wiener Musikkritiker Julius Korngold arrangierte Libretto basiert auf Georges Rodenbachs Roman „Bruges-la-Morte“ (1892) und dessen Dramatisierung (“Le Mirage“, 1897). Erinnerungsträchtige Gegenstände, wohin man blickt: Mobiliar, Frisuren und Klamotten in der vollgestopften Wohnung des Herrn Paul, um dessen Erinnerungen und Obsessionen es geht, siedeln die Geschichte in den 50er oder 60er Jahren an. Man sieht den Mief förmlich. Pia Janssen, die Ausstatterin, schuf mit Liebe zum Detail eine vor Devotionalien überbordende „Kirche des Gewesenen“: Nicht nur das vor blauem Hintergrund leuchtende (und zeitweise zum Leben erwachende) Portrait erinnert an die aus dem Leben geschiedene Ehefrau – eine nazarenische Marien-Darstellung.
Alles ist hier im Andenken an Maria erstarrt: Die unverändert postierten Sessel, die überreichliche Bebilderung an den Wänden, Geschirr und Gläser auf dem Bord und auf dem Boden, jeder Handgriff in diesem „Tempel der Erinnerung“ künden von Verklärung und Heiligenverehrung. Wie viel Zeit seit dem offensichtlich schweren Schicksalsschlag vergangen sein mag, bleibt offen. Waren es nur ein paar Tage? Eher dürfte es sich um Wochen, Monate oder gar Jahre handeln. Paul Esterhazy ließ den Protagonisten Dario Walendowski, der seine höchst anspruchsvolle Partie achtbar meistert, als frühzeitig gealterten Mann ausstaffieren und agieren. Freund Frank sucht Monsieur Paul zum Wiedereintritt ins Leben zu bewegen. Tatsächlich begegnet er Marietta, die der verstorbenen Maria so verblüffend ähnelt. Die lebenslustige junge Varieté-Tänzerin lässt sich, ohne von anderen Umgangsgewohnheiten Abstand zu nehmen, auf den alten Griesgram ein. Zunächst unwillkürlich, dann absichtsvoll tritt sie in Konkurrenz zur übermächtigen Toten in Pauls Kopf. In diesem Gehirn findet Übertragung statt; rasch regen sich dort freilich auch Schuldgefühle, religiöse und mörderische Phantasien.
Die eigentlich vor Pauls Haus vorbeiziehende festliche Prozession siedelte Esterhazy - wie zuvor schon die Fete der Künstler - im Hintergrund der Wohnung an – und der Hausherr setzt sich im Priesterornat an die Spitze. Das fordert Mariettas Spott heraus. Da sie in frivoler Weise mit dem Haar der toten Maria, der wertvollsten Reliquie, zu spielen beginnt, erwürgt er sie auf dem Sofa. Doch die Zuschauer können und sollen keine Gewissheit erlangen: Ist das vielleicht nur ein Alptraum? Taucht Marietta tatsächlich noch einmal leibhaftig auf und fragt nach ihrem vergessenen Parapluie? Oder ist das Tötungsdelikt doch die krude Wirklichkeit und die fleischliche Auferstehung der jungen Schönen mit der etwas überanstrengten Stimme von Dagmar Hesse in der toten Welt schierer Wunschtraum?
Das Verwirrspiel zwischen Phantasiegespinsten und Wirklichkeits-Ebenen nimmt in der neuen Inszenierung eine Wendung, die vom positiv verheißungsvollen Schluss des Korngoldschen Originals deutlich abweicht: Herrn Pauls Haushälterin kehrt als Amtsärztin zurück und der vielleicht ein bißchen untreue Freund Frank – der am überzeugendsten singende Frank Dolphin Wong – als Streifenbeamter. Die beiden Sanitäter in ihrem Gefolge müssen jedenfalls zwei Leichen wegschaffen: Mariettas Double, liegen geblieben vorm Kanapee, und einen all die Zeit unter der Bettdecke gelagerten Körper im dritten Frischegrad. Der Weg aus der „toten Stadt“ in eine neue Freiheit ist in diesem Fall wohl der in eine geschlossene Anstalt. Mit der gleichen subtilen Schärfe, mit der Paul Esterhazy 2003 in Aachen Webers „Freischütz“ in einem Berliner Salon des Uraufführungsjahrs 1821 inszenierte, zeigt er nun die Zwanghaftigkeit eines Mannes, dem die Zeit in den 60er Jahren stehen geblieben ist: einen, der zwar noch einmal aus- und aufbrechen will, aber durchs Würgen schließlich wieder zu seinem trostlosen Zustand gelangt.
Anthony Hermus hat mit Orchester und Solisten hart gearbeitet und in Hagen ein musikalisch vergleichsweise gutes Gesamtresultat zu Wege gebracht. Der Tonsatz Korngolds, der weiterhin von nassforschen Kritikerinnen als Mann ohne musikalische Eigenschaften denunziert wird, diese virtuos geschriebene Musik prunkt, funkelt, dämmert und vermag zu tänzeln, wenn der Dirigent sie nicht in allzu episch angelegter Breite zerfließen lässt. Sie sehnt sich intensiv und beglaubigt verblüffend (Selbst-) Täuschungen. Vor allem erinnert sie sich und die Hörer beständig. Sie erweist sich als bedeutendste Fingerübung für die großen Filmmusik-Partituren, die das Schaffen dieses in den 30er Jahren endgültig nach Hollywood emigrierten Wiener Komponisten krönen.
Die tote Stadt 25. und 29. April, 19:30 Uhr Infos: 02331-2073210