WIR BEZAHLEN FÜR LEISTUNGEN, ÜBER DIE WIR GAR NICHTS WISSEN UND DEREN WERT WIR NICHT EINSCHÄTZEN KÖNNEN
: Manche Menschen sollten mehr Geld verdienen

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Die „Dienstleistungsgesellschaft Kappeln“ in Schleswig-Holstein nennt sich selbst einen Integrationsbetrieb, weil sie unter anderem schwerbehinderte Menschen und Menschen ohne Ausbildung beschäftigt. Gearbeitet wird zum Beispiel als Hausmeister oder in der Büroreinigung, es werden Flaschen sortiert und Holz bearbeitet. Das funktioniert anscheinend, wenn die Leute wenig Geld bekommen, sehr wenig.

Weniger als den bald vorgesehenen Mindestlohn. Und weil das anders angeblich nicht geht, jedenfalls sich nicht lohnt und die Auftraggeber nicht gewillt sind, mehr für die Flaschensortiererei oder die Gartenarbeit zu zahlen, müssen mit Einführung des Mindestlohnes viele von den Beschäftigten entlassen werden, rund ein Drittel, sagt die „Dienstleistungsgesellschaft Kappeln“ und schiebt die Schuld dafür von sich.

Denn wenn eine Firma nicht rentabel arbeitet, ist sie bald keine Firma mehr und kann auch niemanden beschäftigen, für gar keinen Lohn. Und das ist das Problem mit dem Mindestlohn. Der Mindestlohn steht dem System des Kapitalismus entgegen. Es ist natürlich eine gute Idee, dass Menschen für ihre Arbeit angemessen bezahlt werden müssen, und genau genommen müssten viele Menschen sehr viel mehr Geld verdienen und müssten alle gleichmäßig teilnehmen können am Leben, das auch aus essen gehen und danach noch Kino besteht, aus ICE fahren nach München und Tageszeitungsabonnements, aus Urlaub an der Mosel und Gitarrenunterricht für das Kind.

In der Realität können sich das nur einige wenige Menschen leisten und andere müssen sich mit weniger begnügen, und müssen mitunter für so wenig Geld arbeiten, dass ihr Einkommen vom Amt aufgestockt werden muss. Wie ist das, wenn man jeden Tag acht Stunden in der Küche arbeitet, ich kenne so einen Fall, und wo das Geld doch nicht reicht, um davon leben zu können?

Das heißt doch auch, dass die Arbeit, die man tut, nicht so viel wert ist, und das fühlt sich in letzer Konsequenz vielleicht so an, als wär man selbst gleich nicht so viel wert. Man will es nicht glauben und man glaubt es vielleicht doch, in schlechten Momenten, denn der Verdienst ist ein Maßstab der Wertschätzung in unserer Gesellschaft. Die Wertschätzung für eine Arbeit wird einem von dem entgegengebracht, der für sie bezahlt.

Im Falle eines selbständigen Handwerkers sieht der Kunde dem, den er für seine Arbeit bezahlt, vielleicht noch ins Gesicht, in den meisten Fällen aber bezahlen wir für eine Leistung, über die wir nichts wissen und deren Wert wir nicht mehr einschätzen können. Wir entlohnen eine Arbeit nicht mehr angemessen, wir geben einfach nur noch Geld für eine Ware hin, die sich von der Arbeit gelöst hat, als wäre sie plötzlich einfach in der Welt gewesen. Das entbindet uns von einem schlechten Gewissen, der reine Einkauf, nicht die gerechte Entlohnung, steht im Vordergrund der Lebenswelt mit all ihren Entscheidungen.

Im Falle der Firma in Kappeln könnte es anders sein, denn die Arbeiter, die das Gebäude reinigen, wohnen nicht in Taiwan, sie sind vielleicht aus demselben Ort wie die Auftraggeber, sie haben vielleicht Verwandte in der Firma, die den Hausmeister braucht, aber auch hier hat sich das System des reinen Einkaufs durchgesetzt.

Selbst dem schwerbehinderten Nachbarn ist man nicht mehr bereit, das zu zahlen, was ihm nach objektiven, gerechten Maßstäben zustehen würde, und das muss ja immer wenigstens der Mindestlohn sein. Es ist alles immer nur noch ein reines Einkaufen. Ware gegen Geld. Entlohnen ist Sache des Arbeitgebers und der windet sich raus aus der Verantwortung und gibt das weiter, was er im Wettbewerb erzielen kann.

Eine wenigstens annähernd angemessene Bezahlung auf unterster Ebene durchzusetzen, innerhalb eines Systems, das auf der Ausbeutung und Erpressung von Ärmsten und Schwächsten in einer anderen, noch ungerechteren Welt beruht, ist vielleicht sogar absurd, und trotzdem fällt auch mir nichts Besseres ein. Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.