: Der Beharrliche
17. Juni 1966: Der 15-jährige Schüler Horst Frehe stürzt beim Klettern in einem Steinbruch ab. Danach ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Um eine kaufmännische Lehre zu machen, zieht er von Bremen nach Heidelberg in eine Rehabilitationseinrichtung. Danach studiert er Volks- und Betriebswirtschaft, Sozialwissenschaft, Pädagogik und schließlich Jura. 1981: In Bremen tritt Horst Frehe in einen Hungerstreik für einen barrierefreien öffentlichen Personennahverkehr. Es ist das UN-Jahr der Behinderten, Frehe nutzt es für öffentlichkeitswirksame bundesweite Protestaktionen.
13. Mai 2007: Horst Frehe kandidiert für die Bremische Bürgerschaft. Listenplatz 12 bei den Grünen. Zur gleichen Zeit ist er auch Vorsitzender des Sprecherrates des Deutschen Behindertenrates. Sein erklärter Vorsatz bei Amtsantritt im Dezember 2006 war es, die Bundeskanzlerin in ihrer Zeit als EU-Ratspräsidentin zu treffen. Er wollte sie dafür gewinnen, „zur Vorreiterin für eine EU-Gleichstellungsrichtlinie für behinderte Menschen“ zu werden. Angela Merkel hat aber keine Zeit für Frehe, sie schlägt ein Treffen im September vor. Dann ist sie nicht mehr Ratspräsidentin. BENS
AUS BREMEN BENNO SCHIRRMEISTER
An Horst Frehe ist das Treffen mit Angela Merkel nicht gescheitert, ganz bestimmt nicht. Gescheitert ist ohnehin das falsche Wort – es kommt ja zustande, das Treffen, die Blöße gibt sich das Kanzleramt nicht. Aber man hat es nun vorsorglich auf den Herbst terminiert, in den September. Wenn die deutsche EU-Ratspräsidentschaft längst vorbei ist.
Dass ihn das wurmt, gibt Frehe nur indirekt zu verstehen. Sagen würde er es nicht. Er weiß schließlich, dass es bei seinem Anliegen „ums Bohren dicker Bretter“ geht – da ist Gelassenheit eine wichtige Tugend. Außerdem ist es ja nicht so, dass Horst Frehe nichts zu tun hätte. Da ist einerseits der Wahlkampf für die Bremer Bürgerschaft, Frehe kandidiert für die Grünen. Und dann natürlich sein Job: Die Fallzahlen an den Sozialgerichten explodieren in diesem Land, nicht nur in Bremen, wo er Richter ist. Heute zum Beispiel hat er zehn Fälle zu verhandeln, die Akten stapeln sich auf dem Tisch, drei sind schon erledigt, die liegen links. Die anderen rechts. Der Tag wird lang.
Frehes Arbeit als Sozialrichter hat im Grunde nur eins mit dem geplanten Merkel-Treffen gemein: die Ursache. Das war ein Unfall, vor 41 Jahren. Am 17. Juni 1966, Frehe war damals 15 Jahre alt, stürzte er in einen Steinbruch, vierzig Meter tief. Seither ist er von der Hüfte abwärts gelähmt. Rollstuhlfahrer. In seinem weiß möblierten Büro mit Fenster zum dunklen Bau des Landgerichts vollzieht er, fast tänzerisch, einen kleinen Schwenk auf den Hinterrädern. „Schreiben Sie ja nicht: an den Rollstuhl gebunden“, sagt er, seine Augen sind schmal. „Oder sehen Sie irgendwelche Fesseln?“ Er hebt wie zum Beweis die Hände von den Lehnen.
Rollstuhlfahrer. 1966 bedeutete das den Wegfall aller Perspektiven. „Ich hätte“, sagt Frehe, „in einer gemeinnützigen Einrichtung Körbe flechten können.“ Schönes Leben, das. Stattdessen hat er Schule und Ort gewechselt, von der normalen Bremer Realschule zu einer Reha-Einrichtung in Heidelberg. Allein und weit weg von den Eltern. Hat den Fachhochschulabschluss gemacht, Industriekaufmann gelernt und studiert, in Konstanz und Freiburg, VWL, BWL, dann, ab 1978, wieder in Bremen, Behindertenpädagogik, und schließlich noch Jura.
Und Politik hat er gemacht: Für die Bremer Grünen saß er 1987 bis Ende 1990 in der Bürgerschaft. Als er danach Sozialrichter wurde, hat er mit dem damaligen Kasseler Amtsrichter Andreas Jürgens das Forum Behinderter Juristen gegründet. Auch dass Ende der 1970er die „Krüppelselbsthilfe“ und später die „Selbstbestimmt Leben“-Bewegung von Bremen ausgingen, hat mit Frehe zu tun. „Ohne den Unfall“, sagt er, „wäre ich wohl ein langweiliger Angestellter geworden“. Stattdessen ist er die Stimme des Deutschen Behindertenrates, der die Interessen von zweieinhalb Millionen Menschen vertritt. Den Vorsitz im Sprecherrat übernahm Frehe im Dezember, turnusgemäß, das Amt wechselt jährlich zwischen den vertretenen Verbänden.
Bei seinem Antritt hatte er das Ziel für 2007 benannt: die Bundesregierung dafür zu gewinnen, „zum Vorreiter für eine EU-Gleichstellungsrichtlinie für behinderte Menschen“ zu werden. Anlass: das Jahr der Chancengleichheit. Und: die deutsche Ratspräsidentschaft.
Man hat sich deshalb früh um einen Termin gekümmert, das Zeitfenster weit aufgestoßen. Zwischen Ende März und vor dem 11. Juni wollte man die Kanzlerin sprechen. „Aber da hat sie keine Zeit gehabt, die Frau Merkel“, sagt, mit dünnem Lächeln, Horst Frehe.
„Dass es nicht geklappt hat“, informiert das Kanzleramt, „lag allein an Termingründen“, und außerdem finde „das Treffen ja statt, im September“. Was eine EU-Gleichstellungsrichtlinie angeht, da gibt man gerne zu, erst einmal abwarten zu wollen. Schließlich laufe gerade „die Evaluierung des Behindertengleichstellungsgesetzes“ (BGG). Hinzu kommt wohl auch eine generelle Skepsis Merkels gegenüber dem Antidiskriminierungsrecht: Ein halbes Jahr nachdem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von Schwarz-Rot verabschiedet worden war, ging sie noch immer auf Distanz: Das AGG passe „rechtssystematisch nicht in unser Antidiskriminierungsrecht“, sei also aus ihrer Sicht „nicht notwendig“ gewesen, sagte sie im Dezember der FAZ. Kurz nach der Abstimmung über den weitgehend noch von Rot-Grün stammenden Entwurf, Ende Juni 2006, hatten politische Kommentatoren von Merkels erster Niederlage als Kanzlerin gesprochen – und die Behindertenverbände „fragwürdige Veränderungen“ kritisiert.
In der Bundesregierung hat Frehe auch Freunde. Die Behindertenbeauftragte Karin Evers-Meyer (SPD) sagt, für sie persönlich sei Frehes Art, „direkt auf den Punkt zu kommen, genau das Richtige“, auch wenn sie sich vorstellen könne, „dass er manch einem zu forsch“ sei. Und das Projekt einer EU-Richtlinie hält sie für „sehr gut“. Aber „in der derzeitigen politischen Konstellation sehe ich kaum Chancen, es zu verwirklichen“.
Im Gericht hingegen kann Horst Frehe sehr geduldig sein. Da ist zum Beispiel der Kläger, dem die Arbeitsagentur die Bezüge sperrte, weil er angeblich nicht zu erreichen gewesen sei. Dabei hat er nur im Nachbarort einer Freundin renovieren geholfen, hatte das Handy dabei und der Sachbearbeiterin auch die Mobilnummer gegeben. Über die hat sie ihm auch den Überweisungsstopp verkündet. Laut Akte ist in dem Zeitraum wirklich kein Geld geflossen. Aber was fehlt, ist der Bescheid darüber. „Den müssen Sie sich ausstellen lassen“, erklärt Frehe dem Kläger, der keinen Anwalt dabeihat. Einem Bescheid könne er widersprechen. Und dann klagen. „Über ein Telefongespräch“, sagt Frehe mit trockenem Lachen, „können wir nicht verhandeln“. „Ah, so ist das“, sagt der Mann. Dann verlässt er den Saal. „Und danke für ’n Tipp.“
Beharrlichkeit ist die aktive Form von Geduld. Sie schafft Feinde, vor allem, wenn sie mit Geradlinigkeit gepaart ist. Im Jahr 1991 war Frehe bei den Grünen ausgetreten, wegen des „undemokratischen Zustandekommens der Ampelkoalition“, wie er sagt, „und wegen ihrer unsozialen Politik“. Manche Bremer Grüne haben die kurze Zeit der Machtbeteiligung besser in Erinnerung. Vor zehn Jahren ist Frehe wieder eingetreten, und für die jetzige Wahl am Sonntag haben die Mitglieder ihn auf den aussichtsreichen Listenplatz zwölf gewählt. Manche Bremer Grüne halten das für „eine Katastrophe“, sie hätten den alten Kämpen gern an die Linkspartei abgeschoben.
Da kennen sie Frehe schlecht: „Schon aus biografischen Gründen“, sagt er, „kämen die nie in Frage.“ Schließlich hat er seit Ende der Siebzigerjahre die kirchliche Opposition in der DDR unterstützt. Und dann 1980 drei Wochen drüben in Haft verbracht. Wegen Beihilfe zur Republikflucht.
Beharrlichkeit hinterlässt Spuren. Die Grundsicherung, die Horst Frehe seit den Achtzigerjahren fordert, gibt es noch nicht. Aber dafür finden sich im Bremer Stadtbild unzählige abgeflachte Bürgersteige und etliche behindertengerechte Behördenaufzüge. Und in der Bürgerschaft gibt es ein Rednerpult, dessen Mikrofon auf Sitzhöhe verstellt werden kann. Nichts davon ist einfach so, ohne Drängen passiert – obwohl es normal sein müsste, nicht 10 Prozent der Bevölkerung im Gebrauch ihrer Stadt zu beeinträchtigen. Besonders langwierig war der Kampf um den öffentlichen Personennahverkehr. Der begann 1981 mit einem Hungerstreik Frehes, sieben Jahre später wurden die ersten Niederflurbusse in Betrieb genommen. Von Frehe gab’s damals ein knappes Lob und den Hinweis, dass man jetzt „zwar aus Bremen-Nord nach Gröpelingen“ komme, „aber da steht man dann auch“. Immer schön nörgelig bleiben. Heute wirbt das örtliche Verkehrsunternehmen mit einer „Niederflurgarantie“.
Weniger offensichtlich ist Frehes Handschrift im Landesrecht. Als es an Heiligabend 2003 in Kraft trat, war das Bremische das erste Landesbehindertengleichstellungsgesetz der Republik – den ersten Entwurf hatte Frehe 1998 verfasst. Ein gutes Jahr früher verbindlich geworden ist das BGG – das Frehe und Jürgens geschrieben haben. „Eingeschlagen“, sagt Frehe, habe vor allem der Paragraf 4. Das ist die rechtliche Definition von Barrierefreiheit, die laut Gesetz erst dann vorliegt, wenn nahezu sämtliche Lebensbereiche für behinderte Menschen „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“. Und Horst Frehe ist ihr Autor.
Nun sollen auch für die Behinderten in den Staaten der Europäischen Union verbindliche Standards geschaffen werden. Für Frehe eine schöne Herausforderung. Laut dem ersten, 2005 veröffentlichten Behindertenbericht der EU berichteten 30 Prozent der Menschen zwischen 55 und 64 Jahren von einer Behinderung. Und während Deutschland das System Sonderschule und die Wegsperrmentalität pflegt, hat Schweden die Integration fast vollständig vollzogen: Auf 1,8 Millionen Behinderte kommen nur noch 170 Heimplätze. Seit 2007 ist nun auch Bulgarien EU-Mitglied, wo amnesty international noch 2002 „willkürliche Haft und Misshandlung von geistig behinderten Menschen“ festgestellt hat. Auf Druck der EU hat sich da einiges getan. Aber was? Ein aktuelles Lagebild fehlt.
Gleiches Recht in ganz Europa, das wäre doch ein Ziel, für das die Ratspräsidentin eintreten könnte, findet der Deutsche Behindertenrat. Fordert Horst Frehe. „So etwas“, sagt er, „kann man nicht im Schriftwechsel klären.“ Da brauche man schon „ein direktes Gespräch“. Also einen Termin. Die EU-Richtlinie, auf die er hinauswill, ginge sehr weit. Sie soll den „zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz und eine umfassende Barrierefreiheit“ festschreiben, doziert er. Kurz: einen einklagbaren Anspruch auf Gleichbehandlung, nicht nur im Berufsleben. Wohlmeinendes Mitleid, gnädige Zuwendungen – das will man nicht. Die sind nämlich konjunkturabhängig. Von allen emanzipatorischen Bewegungen hat der gesellschaftliche Backlash Menschen mit Behinderung wahrscheinlich am stärksten getroffen. Klassischer Indikator ist der Arbeitsmarkt: Bei Männern und bei Frauen ist die Arbeitslosenzahl 2006 zurückgegangen. Bei Menschen mit Behinderung ist sie um 2,3 Prozent gestiegen.
Frehe wird das nicht hinnehmen. Frehe wird weiterkämpfen. Wird Etappenziele loben. Und immer schön nörgelig bleiben, beharrlich und direkt. Wenn nicht im Frühjahr, dann eben im Herbst, sagt er. Und wenn nicht mit dieser, dann mit der nächsten Kanzlerin. Bürgerrechte sind keine Sache eines Termins. Sie lassen sich verzögern. Aber nicht aufhalten.