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Archiv-Artikel

Das erschöpfte Selbst

PATHOLOGISIERUNG Das Hamburger Ausstellungsprojekt „Krankheit als Metapher“ hinterfragt , was die Depression mit normativem Wandel zu tun hat

Wie pathologisiert die Gesellschaft, was von der Norm vermeintlich selbst- bestimmter Aktivität abweicht?

VON ROBERT MATTHIES

Schwermütig und traurig zu sein, an der Welt zu leiden, das galt noch in der Renaissance als Ausweis besonderer Empfindsamkeit. Für Michelangelo war die Melancholie schlicht „meine Freude“: ein Privileg, ein Ausdruck von Größe und edler Erhabenheit – und die Bedingung künstlerischer Kreativität. Im Leiden der Seele etwas Krankhaftes und Behandlungsbedürftiges zu sehen, darauf wäre der frühmoderne Mensch nicht gekommen.

Heute heißt das Leiden der Seele Depression. Wer wehmütig und verzweifelt ist, morgens nicht aus dem Bett kommt und nachts keinen Schlaf findet, unruhig und unkonzentriert ist, sich leer, traurig und erschöpft fühlt, der geht zum Arzt, schluckt Psychopharmaka, macht Verhaltenstherapien, ändert seine Diät oder macht Yoga. Als Ausdruck einer vorzüglichen Individualität gilt die Urenkelin der Melancholie niemandem mehr, die Depression ist ein Massenphänomen: Mehr als 350 Millionen Menschen leiden weltweit an ihr, schätzt die Weltgesundheitsorganisation und warnt davor, dass die Depression sich rasant zur Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts entwickelt.

Gerade darin aber zeigt sich wieder ein Zusammenhang mit der Individualität. 1998 hat der französische Soziologe Alain Ehrenberg darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Konzeption der Depression eine paradoxe Verkehrung des modernen Anspruchs ist, das Subjekt aus überkommenen Bindungen zu befreien. „Das erschöpfte Selbst“, so der Titel seiner Studie, sei die Kehrseite einer kapitalistischen Gesellschaft, die das authentische Selbst zur Produktivkraft mache – und bis zur Erschöpfung fordere. Die Ausbreitung von Depressionen wird so zur Reaktion auf den permanenten Anspruch, sich selbst eigenverantwortlich zu verwirklichen. Als depressiv gilt, wem es an geistiger und körperlicher Fitness mangelt, sich im Angesicht zunehmend entsicherter Existenzbedingungen täglich neu zu erfinden und als flexible Arbeitskraft auf den Markt zu bringen.

„Alles ist abhängig von Arbeit“, sagt auch Britta Peters, die in Hamburg das internationale Ausstellungsprojekt „Krankheit als Metapher. Das Irre im Garten der Arten“ kuratiert. Ab Montag beschäftigen sich eine Filmreihe, Performances, Ausstellungen, Kunstprojekte im öffentlichen Raum und ein Symposium mit der Frage, wie die Gesellschaft pathologisiert, was von der Norm vermeintlich selbstbestimmter Daueraktivität abweicht, und im Gegenzug die Gesundheit mit fast religiöser Verehrung zum Fetisch stilisiert.

„Krankheit als Metapher“, so heißt ein Essay Susan Sontags, in dem sich die an Krebs erkrankte US-amerikanische Autorin, Filmemacherin und Aktivistin 1978 am Beispiel des gesellschaftlichen Sprechens über die Tuberkulose, den Krebs und Aids mit der Vorstellung auseinandersetzt, die Erkrankung stehe für etwas anderes, nämlich die Unfähigkeit des Betroffenen, die eigenen Gefühle auszudrücken und auszuleben. Wer erkrankt, so die Logik, ist selbst schuld.

„Eine Idee des Projekts ist, zu fragen, inwieweit die Idee, Depression sei die Krankheit des 21. Jahrhunderts, auch so eine Metapher ist“, sagt Peters. Ziel sei deshalb, vermeintlich privaten Konflikten eine politische Dimension zu verleihen, indem das Thema in der Öffentlichkeit verhandelt wird.

Die meisten Arbeiten der Ausstellung sind dabei eher subtil und kleinteilig. Das Künstlerinnenduo Fort etwa lässt in seinem Video „The Calling“ Mitarbeiter eines Callcenters inmitten eines permanenten Geräuschteppichs an ihren Arbeitsplätzen schlafen. Die Hamburger Malerin Julia Schmidt setzt sich mit dem zunehmenden Gebrauch von Desinfektionsmitteln auseinander, deren Gebrauch in New York etwa mit dem Satz „No time to get ill“ kommentiert wird: Auf ihrem Bild „Untitled (Purell)“ sind zwei hochglänzende Flaschen zu sehen. Michaela Melián hat in ihrer Soundarbeit „Andante Calmo“ eine Arie aus Puccinis „La Bohème“ aktualisiert und eine melancholisch-brüchige Collage gebastelt, die die Tuberkuloseerkrankung der Protagonistin Mimi zum Thema macht: Als besonders anfällig galten im 19. Jahrhundert Künstlerinnen und Künstler.

Unter den Projekten im öffentlichen Raum sticht Dora Garcias „Hearing Voices Café“ heraus: Im Café Traumzeit richtet die spanische Künstlerin einen Treffpunkt für Menschen ein, die Stimmen hören. Als Möglichkeit zum Austausch und Mittel zur Entstigmatisierung: Denn wer Stimmen hört und wer nicht, das ist im Stimmengewirr des Cafés ohnehin völlig unerheblich.

■ Eröffnung: Mo, 13. 10., 19 Uhr, Kunsthaus Hamburg. Bis 9. 11.