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Archiv-Artikel

berliner szenen Bahnsteig voller Geigen

Die Jojo-Weltmeisterin

Sie stehen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig. Genau genommen stehen sie sogar drei Bahnsteige gegenüber. Ich warte auf meine S-Bahn, sie warten auf einen Fernzug. Zwischen ihnen stehen zwei Rollkoffer. Kein ungewöhnliches Bild auf einem Bahnhof, aber irgendetwas ist an den beiden, das meine Aufmerksamkeit fesselt. Die Frau hat einen Hosenanzug an, und er trägt Jeans, Turnschuhe und Trainingsjacke. Na klar, denke ich, sie passen optisch überhaupt nicht zusammen, das ist es. Trotzdem scheinen sie ein Liebespaar zu sein. Sie stehen sehr dicht beieinander. Sie berühren sich fast.

Die Frau greift in ihre Tasche und holt ein Jojo heraus. Ich bin ein wenig verblüfft, weil ich in ihrer Tasche vieles, aber nicht unbedingt ein Jojo vermutet hätte. Mit schnellen, geübten Bewegungen zeichnet sie mit dem Jojo ein Herz in die Luft. Zum Schluss jagt sie in einem eleganten Schwung den berühmten Amorpfeil hindurch. Der Mann sieht ihr dabei zu. Ich bin einen Tick zu weit entfernt, um seinen Gesichtsausdruck genau erkennen zu können, aber ich glaube, er lächelt.

Vielleicht ist sie die amtierende Jojo-Weltmeisterin und auf dem Weg zu ihrem nächsten Auftritt. Und er ist ihr Manager. Ein untypisch gekleideter Manager in Trainingsjacke und Turnschuhen. Und seit kurzem sind sie ein Liebespaar, obwohl sie eigentlich mit einem anderen Mann liiert ist. Deshalb berühren sie sich auch nur fast.

Als Nächstes zeichnet sie eine Geige in den Himmel. Der Himmel fängt kurz über ihren Knien an. Und eine zweite, eine dritte und eine vierte Geige. Und noch eine. Bis der Himmel über ihren Knien voller Geigen hängt. Dann fährt ein Zug ein und verdeckt mir die Sicht. Als er weggefahren ist, sind die beiden verschwunden. DANIEL KLAUS