: In den Straßen von Santiago de Chile
„Play“ von Alicia Scheron ist ein Spielfilm im wahrsten Sinne des Wortes
Wenn man nicht wirklich sagen kann, worum es in einem Film geht, spricht dies nicht unbedingt gegen ihn! Worum geht es in einem Musikstück, einem Gemälde, einem Gedicht? In den Künsten geht es mehr um die Wirkung als um die Bedeutung, und das Kino kann viel mehr als „nur“ erzählen. In dem ersten „Spielfilm“ der chilenischen Filmemacherin Alicia Scherson spielt diese tatsächlich mit den Konventionen von Dramaturgie und Plot-Entwicklung. Es gibt zwar zwei Protagonisten und so etwas wie eine Geschichte, aber diese wird so beiläufig erzählt, dass man schnell bemerkt, wie sie eher Struktur als Inhalt liefert: Christina, ein junges Mädchen aus dem Süden Chiles, arbeitet als Krankenpflegerin und findet in einer Mülltonne eine mysteriöse Aktentasche. Sie sucht deren Besitzer Tristan und folgt ihm heimlich durch die Straßen von Santiago. Der junge Architekt Tristan hat gerade seine Arbeit und Freundin verloren und flaniert ziellos durch die Stadt. Erhellender als diese Inhaltsangabe ist da schon das erste Bild des Films, denn es zeigt Christina bei einem Videogame in einer Spielhalle. Später ahmt sie die Bewegungen der Kickboxerin in ihrem Zimmer nach, und man hört dabei das (völlig unrealistische) Zischen der Schläge und Tritte durch die Luft. In einem Actionfilm ist dies ein gängiger, wenn auch etwas kruder Effekt, aber in „Play“ irritiert es eher. Und Scherson spielt ständig mit solchen Irritationen, die den Sehgewohnheiten entgegenlaufen. Im Stil einer Parallelmontage wechselt Scherson ständig zwischen den Perspektiven der beiden Protagonisten hin und her, aber langsam merkt man, dass beide sich nicht im gleichen Zeitrahmen bewegen. Mit solchen Verfremdungsstrategien bricht Scherson immer wieder die Illusion der realistischen, sinngebenden Erzählung, nur um sie dann doch weiterzuspinnen. So wird der Zuschauer immer mehr auf die einzelnen Momente aufmerksam, die mit einem sehr genauen Gespür für Komposition und Wirkung inszeniert wurden.
Es gibt komische Sequenzen wie jene, in denen Christina Tristan wie eine Detektivin dabei beschattet, wie dieser seinerseits seine Ex-Freundin durch die Straßen verfolgt, absurde Szenen wie jene bei der Geburtstagsparty von Tristans blinder Mutter, die ihren Liebhaber zwar in flagranti mit einer Frau im Bett erwischt, diese aber ja nicht sehen kann, und poetische Bilder, in denen das sommerliche Santiago gefeiert wird. Mit einem weggeworfenen Handy, das in diversen Müllbehältern immer wieder vergeblich klingelt, hat der Film sogar einen geschickt gesetzten Running Gag. Und immer verstärkt die Tonspur das Gesehene auf eine subtile und originelle Art und Weise. Hier wurde mit Originaltönen, die raffiniert gemischt wurden, und einer ausgesucht schönen, jazzigen Filmmusik tatsächlich ein Sounddesign geschaffen, das diesen Namen verdient hat.
Und natürlich ist „Play“ nicht nur reines Spiel, natürlich macht dieses filmische Flanieren durch eine lateinamerikanische Großstadt von heute auch Sinn. Ganz nebenbei und scheinbar unabsichtlich, spielerisch eben, wird hier das Stimmungsbild einer modernen Gesellschaft gezeichnet. Christina lebt sozial ungesichert, und als der alte Mann, den sie betreut, schließlich stirbt, ist sie völlig mittellos, und ihr zielloses Treiben durch die Stadt wirkt plötzlich gar nicht mehr so spielerisch. Auch Tristan verliert im Laufe des Film völlig den Boden unter den Füssen, aber dann gönnt Scherson den beiden doch noch, nein, kein stinknormales Happy End, aber doch ein poetisch offenes Ende.
Wilfried Hippen