Mit der Haut ist das auch so eine Sache

ENDLICHKEIT Sanft somnambuler Fluss der Prosa: In Yoko Ogawas Erzählungen vereinen sich Poesie und Horror zu ästhetisch bestechenden Bildern

Dies ist kein Buch, das man abends vor dem Einschlafen lesen möchte

Dass mit dem Gemüse irgendetwas nicht stimmt, ahnt man natürlich bald. Wenn in einem Garten ausschließlich Möhren wachsen, die aussehen wie menschliche Hände, und die Ich-Erzählerin, die von der Gärtnerin damit beschenkt wurde, erwähnt, sie habe ihren Salat gemacht „mit dem kleinen und dem Zeigefinger“, so überläuft es einen bereits da ein wenig kälter, als not täte. Dies ist kein Buch, das man abends vor dem Einschlafen lesen möchte, und auch keines, mit dem man allzu entspannt im Sessel versinken sollte. Mit diesem Erzählungsband, bezeichnet als „Roman in elf Geschichten“, setzt man sich am besten an einen Tisch.

Man sollte um jeden Preis wach bleiben, um dem subtilen Horror, der sich in den dunkleren Winkeln dieser sanft somnambulen Geschichten versteckt, nicht wehrlos zum Opfer zu fallen. In aufrechter Leseposition ist es leichter, sich eine gewisse überlegene Weitwinkelperspektive zu bewahren. Zu bewundern, wie gewandt die Autorin motivische Schlingen knüpft von einer Erzählung zur anderen. Vermutungen anzustellen über die Funktion eines rätselhaften Motivs, das später in einer anderen Erzählung wieder auftauchen wird und in neuem Kontext seine scheinbar eigentliche Bedeutung entschleiert, die aber wiederum nicht die endgültige sein muss, sondern in wieder anderer Erzählumgebung eine zusätzliche semantische Haut bekommen kann.

Mit der Haut ist es auch so eine Sache. Haut ist nur eine sehr dünne Schutzmembran, wie jene der Tomaten, die zuhauf auf einer Straße liegen, von der Erzählerin einer Geschichte plattgefahren werden und in einer der folgenden Erzählungen schließlich in einem wässrigen Restaurantsalat landen. Dass diesen Tomaten Stellvertreterfunktion für den Lkw-Fahrer zukommt, der tot an einer Leitplanke endete, während die Früchte über die Fahrbahn rollten, wissen wir da schon, der Ich-Erzähler dieser Geschichte aber nicht. Er verspeist das Gemüse, obwohl es ihm nicht schmeckt.

Selbst wenn etwas oder jemand über eine deutlich dickere Haut verfügt, wie zum Beispiel der Bengalische Tiger, dessen Tod dem Buch den Titel liefert, so ist es gerade deshalb möglich, dass man letztlich als Mantel endet. Am radikalsten ausgereizt aber findet sich das Motiv der schützenden Haut in der Erzählung „Anprobe für ein Herz“, worin eine Frau ihr Herz außerhalb des Leibes trägt und einen Taschenmacher aufsucht, um sich ein Futteral dafür anfertigen zu lassen. Der Taschenmacher, der sich schicksalhaft in das schutzlos daliegende Organ verliebt, entwickelt eine derartige Besessenheit von seiner Aufgabe, dass es zur Katastrophe kommt, als die Kundin ihm schließlich mitteilt, sie brauche die Herztasche nicht mehr, da sie sich operieren lassen wolle.

Bei so stark aufgeladenen Bildern ist es es unnötig, sprachlich aufzutrumpfen. Dementsprechend ist Yoko Ogawas Sprache in der Übersetzung von Sabine Mangold von bestechender Schlichtheit. In die glatte Oberfläche der Prosa webt Ogawa ihre oft erst auf den zweiten Blick überraschenden, poetischen und dabei so morbiden Bilder ein. Das im tiefen Grunde Schreckliche dieser Erzählungen ist, dass sie, während sie Szenen aus dem Leben entwerfen, doch eigentlich Bilder des Todes meinen. Ein liebevoll dekoriertes Erdbeertörtchen, das von genau drei Früchten geziert wird, kann darin zum Inbegriff sinnlosen Sterbens und selbstzerstörerischer Trauer werden. Ein Salat wird zum vollendeten Symbol eines gewaltsamen Lebensendes; und auch ein Kühlschrank ist letztlich nur ein Sarg für Gemüse und anderes einst Lebendige.

Dass aber der Mensch, der bei Ogawa dieser unendlichen Reihe von Feldfruchtanalogien unterworfen wird, sich in seiner Endlichkeit in nichts vom Gemüse unterscheidet, ist eine bedrückende Sichtweise. Dass sie so ästhetisch zwingend dargeboten wird, macht die Radikalität dieses Ansatzes immerhin etwas erträglicher. KATHARINA GRANZIN

Yoko Ogawa: „Das Ende des Bengalischen Tigers“. Ein Roman in elf Geschichten. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Liebeskind, München 2011. 221 Seiten, 18,90 Euro