: Der spanische Großstadtblues
„Dunkelblau Fastschwarz“ von Daniel Sánchez Arévalo beschreibt keinen Farbton, sondern einen Gemütszustand
Als ich noch klein war und zum ersten Mal Gershwins „Rhapsody in Blue“ hörte, freute ich mich danach schon auf seine Rhapsodien in den anderen Farben und war dann schwer enttäuscht, weil er sein musikalisches Regenbogenprojekt gleich nach dem ersten Versuch abgebrochen hatte. So lernte ich früh, dass Blau mehr als nur eine Farbe ist.
Der spanische Filmemacher Daniel Sánchez Arévalo ist zwar noch jung, aber er wird wohl auch keine weiteren Filme mit Titeln wie „pissgelb beinahebraun“ oder „hellrot knappamrosavorbei“ machen. „Azul oscuro, casi negro“ (so der Originaltitel) ist eher ein Gemütszustand als ein Farbton – jeder Protagonist in diesem Film hängt im Ungewissen zwischen Enttäuschung, Wut, Bedauern, Zögern und Hoffnung.
Jorge pflegt seinen senilen Vater und hat mit viel Anstrengung sein Studium abgeschlossen. Aber weil er sich selbst innerlich nur als den minderwertigen Sohn eines Pförtners sieht, hemmt er selbst seine Entwicklung und stößt seine Jugendliebe von sich, weil diese die Tochter aus einer der reicheren Familien ist, deren Müll er immer noch hinunterträgt. Während er sich so sein eigenes Gefängnis gebaut hat, ist sein Bruder Antonio tatsächlich im Knast. Dort lernt er die junge Paula kennen, die unbedingt hinter Gittern schwanger werden will, weil sie dann in die Mutter-Kind-Station verlegt wird, wo sie nicht von ihren Zellennachbarinnen gequält werden kann. Antonio verliebt sich in sie, aber sie will nur seinen Samen, und als sich herausstellt, dass er unfruchtbar ist, muss sein Bruder Jorge bei den Begegnungsterminen ran. Nur zur Begattung, muss er seinem Bruder versprechen – aber kann solch ein netter Junge überhaupt Sex haben, ohne sich dabei zu verlieben?
Man merkt schnell und natürlich viel früher als die Filmfiguren selbst, wo ihre Geschichte hinsteuert, und ehrlich gesagt ist sie eh von Anfang an so abenteuerlich konstruiert, dass man sie kaum ernst nehmen kann. Aber seltsamerweise stört dies überhaupt nicht – ja Sánchez Arévalo erzählt so beiläufig und gewitzt, dass man bald das Gefühl bekommt, er zwinkere seinem Publikum zu und mache sich selbst ein wenig über seine eigene Dramaturgie lustig. Aber nie über seine Filmfiguren, die er durchweg mit einem liebevoll wissenden Augen zeichnet.
Jeder von ihnen hat den Blues, und jeder wird mit seinem emotionellen Dilemma ernst genommen. Wenn etwa die beiden Väter im Film zu ihren Söhnen ein distanziertes, fast feindseliges Verhältnis haben, rebelliert der Regisseur damit zwar offensichtlich gegen die alten spanischen Patriarchen, aber auch ihnen gönnt er einige Nahaufnahmen, bei denen man genau erkennen kann, was in ihnen vor sich geht.
Die große Stärke von Sánchez Arévalo liegt darin, emotionell wahrhaftig wirkende Stimmungen zu schaffen. Da mag es zwar arg melodramatisch konstruiert wirken, wenn in einem Nebenplot ein Freund von Jorge vom Dach aus spioniert und seinen Vater beim schwulen Masseur gegenüber erwischt. Aber wenn es darum geht, elementare Gefühle deutlich zu machen, macht Sánchez Arévalo keine Scherze mehr, und darum gelingt es ihm die Schauspieler so zu führen, dass alle sich im Laufe des Films vor unseren Augen zu komplexen Menschen entwickeln.
Eine angenehm gelassene Distanz mit einem ganz eigenen Reiz entsteht dann immer wieder durch den Erzählstil, die ironischen Brüche, die lakonischen Schnitte. Wenn man rhapsodisch mit bruchstückartig übersetzt, dann ist dies auch eine Rhapsody in darkblue almostblack.
Wilfried Hippen