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Archiv-Artikel

Komm mit zu Dolores

Ein unglaubliches Leben. Im 3001 läuft heute Abend die Dokumentation „Er tanzte das Leben“ über den jüdischen Tänzer und Widerstandskämpfer Sylvin Rubinstein – in Anwesenheit des über 90-Jährigen

„Wir waren Zwillinge. Wir haben eine Herz getragen, eine Charakter. Das Flamenco hat uns zerrissen das Herz.“ Auf einem Tisch in der kleinen Wohnung, in der der über 90-jährige Sylvin Rubinstein heute zurückgezogen auf St. Pauli lebt, steht das schwarzweiße Foto seiner Schwester Marie. Zum letzten Mal gesehen hat er sie 1942 auf dem Bahnhof in Warschau. Sie wollte nach Osten reisen, die Mutter, seine Frau und die Kinder holen. Sie kam nie zurück.

Als „Imperio y Dolores“ zogen Rubinstein und seine Schwester, 1914 in Galizien als Kinder einer jüdischen Tänzerin und eines russischen Fürsten geboren, in den 30ern als gefeierte Flamencotänzer durch die Varietés der ganzen Welt. Doch dann kamen die Nazis, das Versteckenmüssen, der Hunger und die Angst. 1941 beginnt das zweite Leben des Sylvin Rubinstein, nun unter dem Decknamen „Turski“. Der damals 27-Jährige schließt sich einer von einem Major der Wehrmacht aus einer Theatergruppe aufgebauten Widerstandsgruppe an, die jüdische Kinder und polnische Nonnen versteckt, und kämpft gemeinsam mit Partisanen gegen die Deutschen. Kaltblütig liquidiert der leichtfüßige Tänzer SS-Leute und arbeitet in Frauenkleidern als Agent für den antifaschistischen Untergrund. „Es war eine heißes Leben. Aber ich bin eine Hyäne. Ich hab das gerne gemacht“, sagt Rubinstein.

Nach dem Krieg beginnt Rubinsteins drittes Leben: Er zieht, immer noch auf die Rückkehr der geliebten Zwillingsschwester wartend, die Kleider Marias an und tanzt fortan unter ihrem Künstlernamen Dolores allein den Flamenco. So hält er sie am Leben, so ist er ihr nah. Als die Frauen beginnen, in den Varietés seiner neuen Heimat St. Pauli Striptease und mehr zu machen, zieht sich Rubinstein von der Bühne zurück. „Ich hab mich geekelt vor de’ Menschen.“

Eine unglaubliche Geschichte, die dokumentiert werden muss, befand der Stern-Redakteur Kuno Kruse. So entstand zunächst das Buch „Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein“ und ein Jahr später der Dokumentarfilm „Er tanzte das Leben“. Gemeinsam mit Kruse und dem polnischen Filmer Marian Czura begibt sich Rubinstein darin auf die Reise durch sein Leben: Ins galizische Schtetl, in dem heute kein Jude mehr lebt; den Tourneen des Tanzpaares folgend nach Berlin, Lemberg und Warschau; ins südpolnische Krosno, in dem aus Rubinstein „Turski“ wurde. Und in die kleine Wohnung auf St. Pauli, in der der kettenrauchende Artist, den die Erinnerungen nicht loslassen, flüsternd zu seinen Vögeln spricht.

Heute Abend ist Sylvin Rubinstein während der Vorführung des Films zu Gast.

ROBERT MATTHIES

Do, 28. 6., 19 Uhr, 3001-Kino, Schanzenstr. 75 (im Hof)