: Gott ist im Arsch
PERFORMANCE Passend zum de-Sade-Jubiläum zeigt die Schwankhalle Toni Bentleys erotische Autobiografie – als fesselndes Bühnen-Solo von Isabelle Stoffel
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Fast wäre „Die Hingabe“ dann doch eine Art Gedenkveranstaltung geworden. Auf jeden Fall hätte die Aufführung von Toni Bentleys vor zehn Jahren veröffentlichter Autobiografie „The Surrender“ – die auf Deutsch unbegreiflicherweise unter dem bescheuerten Titel „Ich ergebe mich“ publiziert worden ist – gut gepasst und die nötige Würde gehabt.
Doch erst am Mittwoch, also einen Tag zu spät – der Freiheitsdenker Donatien Alphonse François de Sade war ja am 2. Dezember 1814 gestorben – trat Isabelle Stoffels in der Rolle von Toni Bentley auf die Bühne der Schwankhalle. Sie hat sich mit eleganten, einer Tänzerin würdigen Schritten, auf knallend hochhackigen Schuhen aufs Publikum zubewegt, hat die Zuschauer durchaus freundlich, wenn auch ein wenig distanziert angelächelt und gesagt: „Ich habe viel dadurch gelernt, dass ein Mann mich in den Arsch gefickt hat.“
So schnell, so unkompliziert, so direkt legt, in der Inszenierung des spanischen Filmregisseurs Sigfrid Monleón, die von Stoffel entwickelte Bühnenfassung los, ein fast anderthalbstündiges fesselndes Solo. Bentley hat sie, anlässlich ihrer Aufführung im Centro Dramático Nacional in Madrid als „ein Wunder“ bezeichnet. Und zwar als „ein Wunder, das so groß ist, wie jenes, das ich erlebte, als ich das erste Mal anal penetriert worden bin“. Ein höheres Lob lässt sich kaum denken. Die australische Weltklasse-Tänzerin nämlich – ab 1977, mit 17 Jahren, gehörte Bentley zum Corps von Ballanchines New York City-Ballett – hat die Sodomie als maximale spirituelle Erfahrung erlebt, als Gottesbegegnung, als Offenbarung.
Davon handelt ihr Buch, das stellenweise wie eine Reprise der „Philosophie dans le Boudoir“ aus der Perspektive der Eugénie wirkt: Bentley inszeniert sich im Text als Questor-Heroine eines erotischen Bildungsromans, die ihren Gral dank eines ungenannten Messias glücklich findet. Den reckt sie 2004 mit dramatischer Geste einer US-Gesellschaft entgegen, in der ein Jahr zuvor noch Gesetze gegolten hatten, die einvernehmlichen Analsex mit bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe bedrohten: Mit Utah weigert sich einer der Bundesstaaten noch heute, die verfassungswidrige Regel zu beseitigen.
Doch, die Mormonen wissen schon, was sie tun: Die Scham ist eines der wirksamsten Machtinstrumente der Religion; mit ihm wirft sie sich zur Herrin über Körper auf. Und extrem schambesetzt und verschwiegen ist der Analverkehr als eine der nicht auf Reproduktion gerichteten Sexualpraktiken. Das Tabu, die Prüderie, die Enge, dagegen bekämpft Bentley unter Einsatz ihrer gesellschaftlichen Person – und es ist noch nicht lange her, da hätte man sie wie den Marquis dafür geächtet, weggesperrt nach Charenton und bestenfalls vergessen. Und mit einem Blick auf den – passenderweise diesmal auch in der Schwankhalle ausgetragenen – Festakt zur Vergabe des Hannah-Arendt-Preises an Pussy Riot, kann man sich vielleicht fragen, warum es wohl nie je eine Freiheitsbewegung gegeben hat, die ohne Protest gegen die sexuellen Normen sich hätte formieren können.
Dieser heldische und kämpferische Aspekt klingt in der Bühnenfassung mit an, ohne dass die sich das Pathos des Buchs ganz zu eigen zu machen würde: Sie ist leichtfüßig und akzentuiert viel mehr die Komik der Vorlage. Das ist eine kluge Entscheidung. Hinter einer halbtransparenten spanischen Wand lässt Regisseur Monleón Stoffel mit den Fantasien des Publikums spielen, sie erzählt ihre Kindheit und ihren Neid auf die religiösen MitschülerInnen in der Ballettklasse, die ihrem Leiden stets einen Sinn und ihrem Versagen eine Entschuldigung beizugeben vermochten.
Behutsam entzündet sie Andachtskerzen und stellt sie ins Regal für ihre Verflossenen. Vollendet schamlos intoniert sie die hymnischen Beschwörungen durchlebter Orgasmen, hört, sich auf einer Chaiselongue räkelnd, ihre auf Diktafon gesprochenen Lusttagebuch-Einträge an, lässt sich von den Erfahrungen erneut durchzittern – und switcht dann, am Overheadprojektor mit Zeigestab und Hornbrille, in einen köstlichen Oberlehrerinnen-Gestus: Anhand einer anatomischen Folie des menschlichen Rektaltrakts erläutert sie das Zusammenspiel der beiden Afterschließmuskel, des steuerbaren äußeren und des dem Willen unzugänglichen inneren. Nirgends sonst lägen „Unbewusstsein und Bewusstsein näher beieinander“, informiert sie – und Glück schwingt dabei in ihrer Stimme – „und nirgends kann man besser in sie eindringen“, und warnt dann doch, erhobenen Zeigefingers: „Wer blutet, muss es lassen.“ Was zu dem einen passt, passt nicht zu dem anderen – auch das lehrt schon de Sade.
■ Toni Bentley: Die Hingabe, Bühnenfassung von Isabelle Stoffel, nur Sa, 6. 12., 20 Uhr, Schwankhalle