: Bahnhofs-Klausur
von Rainer Nübel und Susanne Stiefel
Sollen sie rauf, sollen sie runter – oder doch gleich ins Kloster? Die Idee hat was: Ministerpräsident Winfried Kretschmann geht mit den Beteiligten des Dauerkonflikts um Stuttgart 21 für drei Tage in Klausur und schenkt den Wein erst dann aus, „wenn die weiße Rauchfahne eines Kompromisses aufsteigt“. So dachte es sich vor wenigen Tagen der linke Politologe und S-21-Gegner Peter Grottian im fernen Berlin und schlug das Kloster Maulbronn vor. Grottian hat, gestärkt von einer eigenen Umfrage, unter den Baden-Württembergern eine große Friedenssehnsucht ausgemacht, eine Lust auf Versöhnung und Überwindung der Zerrissenheit.
Langsam sind wir Baden-Württemberger es ja gewohnt, dass man sich in allen Teilen der Republik Gedanken über uns macht. Über uns als Wutbürger, Mutbürger, als Porschefahrer und Killesbergwitwen. Und wir finden diese Anteilnahme auch rührend. Aber mal ehrlich, Herr Grottian. Wir sehen ja ein, dass was Neues hermuss, ein anderer Ort als das Stuttgarter Rathaus. Aber das Kloster Maulbronn? Wo schon Hermann Hesse gelitten hat und sich „Unterm Rad“ fühlte? Um Himmels willen!
Also erst mal ist das ein evangelisches Kloster. Da gibt es keinen Papst und auch keinen weißen Rauch. Auch nicht, wenn der oberste Baden-Württemberger ein bekennender Kathole ist und im Zentralrat sitzt. Nein, womöglich würden dort noch andere einen Nervenzusammenbruch kriegen wie damals Hesse, der daraufhin von seinen Eltern aus dem Kloster befreit und in eine „Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische“ eingeliefert wurde.
Suchen wir also nach einem unverbrauchten Ort. Einem Sehnsuchtsort, an dem sich die Kompromisswilligen auf Lösungssuche machen können.
Die Wurmlinger Kapelle? Oder die Nebelhöhle?
Wie wär's mit der Wurmlinger Kapelle? Drunten, im Ammertal bei Tübingen, die beruhigende Idylle des ländlichen Lebens inmitten von Feldern und Steuobstwiesen, und droben, auf dem 475 Meter hohen Bergkegel, ein Ort der Ruhe und Kontemplation. Winfried Kretschmann hätte den direkten Blick auf Rottenburg, was für einen überzeugten Katholen per se schon friedenspolitisch inspirierend sein müsste. Derweil könnte sein Verkehrsminister Winfried Hermann, ein passionierter Läufer, mit seinem kongenialen Bahn-Gegner Volker Kefer ein kleines Wettjogging austragen. Wobei nicht spannend wäre, wer gewinnt, sondern wer nach dem Bergrennen noch die Kondition zum Lächeln hätte. Allerdings könnte die Symbolik dieses Klausurortes die Befürworter des Milliardenprojekts eher lähmen, wenn nicht gar demotivieren. Frei nach Ludwig Uhland: Droben bringt man das zu Grabe, was sie planten in dem Tal.
Wie wär's dann zum Beispiel mit „unten rein“, wie die Befürworter von S 21 so trefflich sexuell verklemmt dichteten? Sprich: Warum nicht runter in die Nebelhöhle? Dort, im Bauch der Schwäbischen Alb, könnte man sich ganz auf sich besinnen, ohne störende Einflüsse. Allenfalls das Tropfen der Stalaktiten würde das Verrinnen der Zeit anzeigen. Die Vertreter von Bahn, Stadt, Land und Aktionsbündnis könnten sich auf die von Wilhelm Hauff so beschriebene Zauberwelt einlassen: „Der Tropfstein, aus dem diese Höhle gebildet war, hing voll von vielen Millionen kleiner Tröpfchen, die in allen Farben des Regenbogens den Schein zurückwarfen und als silberreine Quellen in kristallenen Schalen sich sammelten.“
Nein, das ist doch zu romantisch. Ein Bahnhof, zumal der Stuttgarter, ist eine eher profane Sache. Und sowieso geht es ja noch tiefer in Baden-Württemberg. Etwa in das blaue Reich der schönen Lau. Doch es stellt sich die Frage: Würde im Mörike-Dom des Blautopfes das Milliardenprojekt nicht gar zu verwässert, und stünde am Ende nur ein lauer Kompromiss?
Also doch eher ein Ort, an dem der revolutionäre Geischt der „Stuttgarter Republik“ zum Tragen käme? Dann müsste sich der Friedenstross ins nahe Ausland bemühen. Ins Badische, nach Freiburg, Offenburg oder Rastatt, wo weiland die Heckers und Struves gegen Obrigkeit und Adelsprivilegien wetterten und das Volk in Bewegung geriet. Lang, lang ist's her. Der Wein wäre jedenfalls klasse, denn über Baden lacht bekanntlich die Sonne. Doch die S-21-Gegner dürften sich nicht zu früh freuen. Die Bahnmanager kommen aus Berlin. Und die Preußen haben schon einmal der Revolution den Garaus gemacht.
Warum in die Ferne schweifen, liegt das Gute nicht so nah? Vor den Toren Stuttgarts, aber in nötiger Distanz zum Hexenkessel und in luftiger Höhe, der Weitsicht verspricht, liegt der Hohenneuffen. Und dort, in der altehrwürdigen Burgruine, wurde schon mal eine knifflige und konfliktreiche Politmission gestartet: die Vereinigung zweier Antipoden, die partout nicht zusammenwollten – Baden und Württemberg. Am 2. August 1948 lud der damalige Regierungschef von Württemberg-Nordbaden, Reinhold Maier, die Führungspolitiker aus Württemberg-Hohenzollern und Südbaden zur Konferenz. Es wurde heftig diskutiert – und heftiger getrunken. Immer wieder musste neuer „Täleswein“ aus Neuffen auf die Burg geschafft werden. Da wurde selbst der streitbare Südbaden-Chef Leo Wohleb, der die Idee des Südweststaates gar nicht mochte, milder. Gut, zugegeben, es dauerte danach noch reichlich vier Jahre, bis das Bindestrichland dann stand. Aber liegt darin nicht ein überaus realistischer Bezug zum aktuellen Endloskonfliktthema?