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Archiv-Artikel

„Zähne, Haare oder das Leben lassen“

DOKUMENTE Das Buch „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“ gibt einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Mauer als „große politische Ikone der Menschheit“

VON BARBARA BOLLWAHN

Unaufhörlich wächst der Stapel an Büchern über die Mauer, erst recht in diesem Jahr, in dem sich ihre Errichtung zum 50. Mal jährt. Im dtv Premium Verlag ist ein Buch mit Aufsätzen zur Geschichte der Mauer erschienen. „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“ heißt das über 600 Seiten starke und ein Kilogramm schwere Werk.

Der Herausgeber, Klaus-Dietmar Henke, Professor für Zeitgeschichte an der Technischen Universität Dresden und Vorsitzender des Beirats der Stiftung Berliner Mauer, hat 27 Autoren versammelt, um das Bollwerk von seinen Anfängen bis zum Ende zu beleuchten. Von der Berlin-Krise über CIA, BND und das Ministerium für Staatssicherheit, die Sicherung der Grenze, geglückte und misslungene Fluchten, die strafrechtliche Ahndung der Gewalttaten an der Grenze, die Erinnerungskultur, die Mauer als politische Metapher, ihre Rolle in der Literatur, im Spielfilm, in Malerei und Grafik bis zur Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße und der Mauer als politische Metapher.

Dass eine Metropole wie Berlin geteilt werden konnte, „war genauso unwahrscheinlich als wenn der Buckingham Palace und Westminster Abbey von einem Tag auf den anderen auf zwei verschiedenen Kontinenten gelegen hätten“, schreibt Klaus-Dietmar Henke in der Einführung. Mit Hiroshima, Auschwitz oder der Freiheitsstatue gehöre die Mauer „zu den großen politischen Ikonen der Menschheit“.

Fast drei Millionen Menschen hatten die DDR seit ihrer Gründung 1949 verlassen. Allein von Anfang des Jahres 1961 bis zum Mauerbau durchliefen 155.402 Personen das Notaufnahmeverfahren. In dem Kapitel „Ulbricht und der Mauerbau“ wird eines der Schlüsseldokumente in der Geschichte des Mauerbaus zitiert, das erst kürzlich in Moskau freigegeben wurde.

Es geht um ein Treffen am 1. August 1961 in Moskau zwischen Walter Ulbricht, Erster Sekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Staatsratsvorsitzender der DDR, und Nikita S. Chruschtschow, Erster Sekretär des ZK der KPdSU und Ministerpräsident der Sowjetunion.

„Ich habe eine technische Frage“, wird Chruschtschow zitiert. „Wie wird die Kontrolle an den Straßen verwirklicht, deren eine Seite sich in der DDR befindet und die andere in West-Berlin?“ Ulbricht antwortete: „In den Häusern, die einen Ausgang nach West-Berlin haben, werden wir diesen Ausgang zumauern. An den anderen Orten werden wir Sperren aus Stacheldraht errichten. Der Draht ist schon herangeschafft worden. Das alles kann man sehr schnell machen.“

Einwandfreies Schussfeld

Zwölf Tage später wurde die Aktion „Rose“ durchgeführt. Über 5.000 Grenz,- 5.000 Schutz- und Bereitschaftspolizisten sowie 4.500 Angehörige der Kampfgruppen sperrten bis zum Morgen des 13. August 1961 die Sektorengrenze in und um West-Berlin ab. Als der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, drei Tage später von West-Berlin aus an die Grenzpolizei und Kampfgruppen appellierte, sich nicht zu „Lumpen“ machen zu lassen und nicht auf eigene Landleute zu schießen, schoss das SED-Zentralorgan Neues Deutschland mit einer propagandistischen Breitseite zurück: „Seit wann sind Einbrecher, Strauchdiebe und Mörder ‚Landsleute‘? Wir wissen Freund und Feind zu unterscheiden! Die Feinde unseres Volkes beißen bei uns auf Granit und lassen – je nachdem, wie frech sie es treiben – Zähne, Haare oder das Leben.“

In dem Kapitel „Die SED und ihre Mauer“ geht es unter anderem um die Frage, wie die Führer eines Landes, das sich als „demokratische Republik“ bezeichnete, die eigene Bevölkerung einmauern konnten und sie mit Stacheldraht und Maschinenpistolen am Übertritt in den Westen zu hindern. Durch eine Erkrankung von Verteidigungsminister Heinz Keßler 1974 wird „ein seltener Einblick in die Denkweise“ des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker möglich. Der kranke Minister ließ sich von General Fritz Streletz eine Niederschrift der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates anfertigen, bei der Honecker darlegte, dass überall „ein einwandfreies Schussfeld zu gewährleisten“ sei. „Nach wie vor“, so Honecker weiter, „muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“

Dauerhaft abschaffen wollte die DDR-Regierung die Mauer nicht. Es gab Planungen, sie über das Jahr 2000 hinaus weiterzuentwickeln, weniger martialisch aussehend und dennoch effizienter. Ein Plan von 1988 sah versteckte Anlagen vor, „kombiniert aus Lichtschranken, seismischen und akustischen Bodensensoren, Mikrowellen- und Vibrationsdetektoren im Wasser“, um jede Annäherung an die Grenze zu melden und die Flüchtlinge zu verhaften.

Heute ist der Großteil der Reste der Berliner Grenzanlagen in aller Welt verstreut. Für den Herausgeber des Buches ist sie „als eine der großen politischen Ikonen der Menschheit gegenwärtiger denn je“.

Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“. DTV, München 2011, 607 Seiten, 24,90 Euro