Wer ist Mr Blank?

Paul Auster gibt eine postmoderne Party und ärgert die Gäste: „Reisen im Skriptorium“

VON SUSANNE MESSMER

Paul Auster ist zu verdrechselten Verwirrspielen zurückgekehrt, wie er sie am Anfang seiner langen Autorenkarriere noch mehr zu basteln pflegte, zum Duktus von Büchern wie der „New York-Trilogie“ zum Beispiel. Noch bei seinen letzten zwei, drei Büchern dachte man, er habe zunehmend ein Faible für gegenwärtige Geschichten über das wirkliche Leben entwickelt, mit viel Aufmerksamkeit für Schichten, Milieus und andere feine Unterschiede. Doch mit seinem neuen Buch „Reisen im Skriptorium“ wird man eines Besseren belehrt. Hier wird keine richtige Geschichte erzählt, die mit Stoff gefüttert wurde, einen Anfang, eine Mitte, ein Ende und eine Bedeutung hat. Wieder einmal hat Auster eine literarische Fingerübung aus dem Ärmel gezaubert, ein „voltenreiches Vexierspiel“, wie der Verlag behauptet. Es ist bestimmt gut dazu geeignet, im Literaturseminar ausgeknobelt zu werden. Fraglich aber, ob es auch zum Lesevergnügen plus Erkenntnisgewinn etwa für laue Sommernächte auf dem Balkon taugt.

Held der Geschichte ist ein Mr Blank, eine alter Mann ohne Erinnerung, ein weißes Blatt Papier – berichtet wird von einem Tag in seinem Leben, an dessen Ende er schon den Anfang vergessen hat. Medizinisch erzwungene Amnesie oder Alzheimer? Das ist hier ebenso unsicher wie der Rest: Mr Blank scheint eingesperrt in ein Zimmer. Das kann er aber nur annehmen; bis zum Ende schafft er es nicht nachzusehen, ob die Tür tatsächlich verschlossen ist oder nicht. Mr Blank scheint einmal eine Art Boss der meisten Menschen gewesen zu sein, die ihn an diesem Tag besuchen und die behaupten, für ihn als Agenten gearbeitet haben – Agent wofür, das vermag der alte Mann nicht zu sagen. Er hat ein schlechtes Gewissen, weiß aber nicht, wieso.

Mr Blank weiß eigentlich nur, dass er nichts weiß, und selbst aus dieser Gewissheit muss er sich immer wieder reißen lassen, denn hin und wieder geht es auf den Topf, er wird gefüttert und gewaschen, an- und ausgezogen, angerufen oder mutwillig aus der Fasson gebracht, indem die Schildchen, die alle Gegenstände in seinem Zimmer als das ausweisen, was sie sind (Lampe, Schreibtisch, Wand), plötzlich woanders hängen. Mr Blank fragt sich ganz korrekt: Was war zuerst? Das Zeichen oder das, was es bezeichnet? Der Weg ist das Ziel, Spuren werden gesucht, weil die Spuren so interessant sind, und nicht die, die sie verursacht haben.

Wir haben es also mit einem Text wie aus dem Lehrbuch zur Literatur der Postmoderne zu tun. Erzählprozesse und Gedankengänge geraten immer wieder ins Zögern, Stocken, sie brechen ab, setzen wieder an und führen selten zu einem Ergebnis. Der Plot ist nicht verzwackt, er ist unerwünscht. Lose Enden werden nicht zusammengeführt, Umwege enden in Sackgassen – ganz so wie eine dieser wenig statisch austarierten Schachtelstufen von M. C. Escher oder eine der verdrehtesten Geschichten Franz Kafkas – Paul Auster, der Enkel jüdischer Emigranten aus Österreich, lässt seine literarischen Vorbilder durchblitzen.

So undurchschaubar es bleibt, wer Mr Blank ist und was er hier zu suchen hat, so schleierhaft ist es, was der Polizist, die Pflegerinnen und der Anwalt in dieser Erzählung verloren haben. Sicher: Sie alle tragen Namen anderer Helden aus anderen Büchern von Paul Auster – was wäre ein postmoderner Text ohne seine viel gerühmten Verweise? Schade nur, dass selbst dem, der dies erkannt hat, unklar bleibt, was Mr Blank mit diesem Personal zu tun hat. Nun denn. Man will geduldig bleiben. Man hält sich fest an der klaren Sprache, der herrlichen klaustrophobischen Stimmung. Man bleibt dran.

Aber nicht mehr lang. Denn dann kommt auch noch eine dieser Binnengeschichten, für die Paul Auster ebenfalls sehr berühmt ist. Mr Blank bekommt sie in einem Manuskript vorgesetzt, das er auf seinem Schreibtisch findet. Es handelt sich um einen halbgaren Western mit Versatzstücken aus Fantasy und Science-Fiction, der mit dem Zaunpfahl auf die Geschichte der Kolonisierung Nordamerikas weist. Der nächste Spiegel spiegelt den letzten, das nächste Rätsel ist angerissen – und mit ihm der letzte Faden der Geduld.

Mr Blank zeigt sich nicht nur äußerst fasziniert von diesem Stück Trash, er spinnt es in einer Anwandlung geistiger Klarheit auch weiter. Die Fragen schlagen Purzelbäume. Hat er es geschrieben? Hat er womöglich, wie sich der Verdacht verfestigt, seine seltsame Lage selbst angeordnet? Ist das Schreiben ein Gefängnis? Hat er sich selbst erfunden? Sind seine Besucher Produkte seiner Fantasie? Oder haben wir, die Leser, Mr Blank erdacht? Wer macht die Kunst? Macht sie der Künstler, macht sie sich selbst, oder entsteht sie im Kopf des Betrachters?

Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: Die Errungenschaften unserer schönen Postmoderne waren ja gut und richtig – von wegen Pluralismus der Perspektiven, Geschichten und Wahrheiten, Lust an Zitat, Zufall und Zweifel und so. Aber dieser neue, kunstfertig gedrechselte und durch und durch manierierte Wurf hier, der geht doch zu weit. Es ist, wie ein Rezensent in Amerika es beschrieben hat: Wem Auster neu sein sollte, der ist auf dieser Party nicht eingeladen. Ebenso wenig übrigens der, der ein schlechtes Namensgedächtnis hat. Und auch nicht der, der keine Lust hat, zu grübeln und zu brüten, alle paar Minuten aufzuspringen und in älteren Büchern des Paul Auster nachzuschlagen. Schade. Auf eine Party mit diesem Autor hätte man Lust gehabt.

Paul Auster: „Reisen im Skriptorium“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007, 160 Seiten, 16,90 Euro