: Ernährungsmedizin in der Krise
Die Heilkraft des Essens wurde überschätzt. Auch die Forscher schwenken um. Denn die Ernährung ist bei vielen Krankheiten kein entscheidender Faktor. Nun bemüht sich die Wissenschaft um Abgrenzung gegenüber unseriösen Ernährungsexperten
VON KATHRIN BURGER
Grüner Tee, Rotwein, Soja, Ballaststoffe, viel Obst und Gemüse – solch ein Speiseplan galt seit Mitte der 1990er Jahre als Garantie für ein langes und gesundes Leben. Das Krebsrisiko etwa sollte demnach zu 30 Prozent durch die Ernährung beeinflussbar sein. Auch gegen Herzinfarkt und Alzheimer könnte man sich mit einer Grünzeug-reichen Diät wappnen, versprachen nicht nur unseriöse Diät-Gurus, sondern auch Wissenschaftler und geprüfte Ernährungsberater.
Auch heute gibt es noch Forscher, die Bücher mit dem Titel „Krebszellen mögen keine Himbeeren“ schreiben. Trotzdem ist man vorsichtiger geworden. Nur noch zehn Prozent des Krebsrisikos sollen mit Messer und Gabel beeinflussbar sein. Ein Fazit des im März abgehaltenen Kongresses der deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) lautet demgemäß: „Die Ernährungswissenschaft muss sich künftig als Wissenschaft von der Rettung der Volksgesundheit lösen und sollte keine Heilsversprechen mehr abgeben.“
Der Grund für die plötzliche Zurückhaltung: Zahlreiche, große Studien, in denen man Probanden über mehrere Jahrzehnte beobachtet, akribisch Ernährungstagebücher und Krankheitsdiagnosen ausgewertet hatte, lieferten vernichtende Ergebnisse. Nur einige davon: „Ballaststoffe schützen nicht vor Dickdarmkrebs“, „Grüner Tee senkt nicht das Krebsrisiko“, „Herz-Diäten mit viel Obst und Gemüse sind zumindest bei Frauen wenig Erfolg versprechend“. Was der Homo sapiens täglich verspeist, spielt anscheinend nicht die große Rolle, wie bislang vermutet. Was gesund ist, ist darum heute so unklar wie früher. Sicher ist lediglich: Abwechslungsreich sollte die Ernährung sein, um etwa Vitaminmangelkrankheiten vorzubeugen.
Gerade was das Potenzial einer vorwiegend vegetarischen Kost angeht, sind Ernährungswissenschaftler enttäuscht. So viel Hoffnung setzte man auf die dunkelvioletten bis hellgelben Farbstoffe, auf die Kohl- und Knoblaucharomen, die Tee-Gerbstoffe. Aus Zellkultur- und Tierversuchen lagen schließlich handfeste Beweise vor. Etwa dass Farbstoffe freie Radikale unschädlich machen oder Ballaststoffe Cholesterin binden bevor sie in Gefäßen Unheil anrichten.
Doch warum haben sich diese Theorien nicht bewahrheitet? Einige Forscher führen dies auf die Methoden zurück. In der Cochrane-Datenbank, die auflistet, für welche Behandlungen in der Medizin Beweise vorliegen, finden sich zum Beispiel nur vier Prozent Studien zum Gesundheitspotenzial von Ernährung. Das liegt daran, dass die Cochrane-Forscher strenge Maßstäbe anlegen. Der Idealfall: randomisierte, kontrollierte Studien. Das heißt man verabreicht einer Gruppe einen Wirkstoff, einer Kontrollgruppe ein Placebo. Das funktioniert aber nicht für Ernährung, schließlich ist ein Steak mit Beilagen ein komplexes Gemisch verschiedener Nährstoffen. Zudem gibt es kein Placebo.
Die wenigen Ernährungsstudien in der Cochrane-Basis sind daher Interventionsstudien. Das wiederum verlangt oft ethisch nicht legitimierbare Eingriffe in die tägliche Nahrungsaufnahme über eine lange Zeit. Darum favorisieren die meisten Ernährungswissenschaftler Beobachtungsstudien. Doch diese Studien sind fehlerbehaftet. Die Probanden schummeln beispielsweise, wenn sie über ihre Speisepläne berichten sollen.
Nach den zahlreichen Rückschlägen, die die Ernährungswissenschaft in den letzten zwei Jahren erlitten hat, fragen sich nun einige Forscher, ob die Epidemiologie überhaupt geeignet ist, um den Einfluss der Ernährung auf chronische Krankheiten zu klären. So etwa auch Hans Konrad Biesalski, Mediziner an der Uni Hohenheim: „Bis heute konnte nicht genau definiert werden, was der Ratschlag, viel Obst und Gemüse zu verzehren, überhaupt heißen soll“.
In Erklärungsnot kommen die Wissenschaftler auch gegenüber ihren Geldgebern. Die Women’s Health Initiative (WHI), bei der einige tausend US-Amerikanerinnen auf eine fettarme Diät gesetzt wurden, hat etwa zwei Milliarden Dollar verschlungen. Das Ergebnis: Die Cholesterinlevel im Blut waren bei den Diäthaltenden fast genauso hoch wie in der Kontrollgruppe, das Brustkrebsrisiko unverändert. Die Macher verteidigen jedoch ihr Vorgehen: Nur große Studien könnten ausschließen, dass Ergebnisse zufällig entstehen.
„Für viele Fragen in der Ernährungswissenschaft treten Probleme auf, die kaum lösbar sind“, räumt Volker Pudel, Ernährungspsychologe an der Universität Göttingen ein. „Trotzdem gilt es Wahrheiten zu finden.“ Die vielen Widersprüche zu erklären, das haben sich nun die Nutrigenomiker auf die Fahnen geschrieben. Denn man weiß heute, dass Menschen je nach genetischer Voraussetzung sehr unterschiedlich auf Nahrung ansprechen. Ob die Nutrigenomiker jemals fundierte Tipps geben können, ist jedoch auch nicht sicher.
Indes, das Vertrauen in die Ernährungswissenschaft ist vielen Menschen abhanden gekommen. Was soll man noch glauben? Helfen nun viele Kohlenhydrate oder wenige beim Abnehmen, senkt sparsam salzen den Bluthochdruck oder nicht, ist ein Glas Rotwein nun gut fürs Herz oder schädlich?
Was anderen Wissenschaften nachgesehen wird, nämlich die Aufstellung von Theorien und deren Widerlegung, nehmen Laien Ernährungsexperten übel. Der Grund: „Der Mensch will beim Essen nicht immer umdenken, weil es eine alltägliche Handlung ist“, erklärt Jean-Claude Kaufmann, Soziologe an der Pariser Sorbonne.
Die hohen Ansprüche haben Ernährungswissenschaftler selbst mit ihren Lobgesängen auf Pflanzeninhaltsstoffe geschürt. Doch nicht nur sie sind schuld an der Misere. Auch selbst ernannte Ernährungsexperten verbreiten in Büchern über Lichtnahrung, Trennkost oder Krebsdiäten Abstrusitäten, die die Wissenschaft schon längst widerlegt hat. Und doch finden diese „Experten“ in den Medien Gehör. Gerade aus Print und Fernsehen beziehen viele Menschen ihre Diättipps.
Nicht zuletzt hat die Industrie ihre Finger im Spiel. Große wirtschaftliche Interessen stehen hinter dem Gesundheitspotenzial von Kaffee, Olivenöl oder Sojabohnen. Um das eigene Produkt zu preisen, geht man so vor: Man gründet eine Stiftung, die Lebensmittelforschung fördert. So macht es die Alpro Foundation. Sie heißt zwar nach dem großen Sojaproduktehersteller Alpro Soy, bezeichnet sich aber als unabhängig.
Die Stiftung gibt einen Newsletter an Redaktionen heraus, in dem die Wunderqualitäten von Soja beschrieben werden. Kein Wort von möglichen Nebenwirkungen. Wenn Zeitmangel herrscht, übernehmen Journalisten dankbar und unkritisch solche Informationen.
Laut einer Studie der Harvard Medical School fallen industriegesponsorte Ernährungsstudien zumindest bei Getränken stets positiver aus als staatlich finanzierte. Von Unabhängigkeit und Wahrheitsfindung kann bei vielen Forschungsarbeiten also keine Rede sein. Sich davon abzugrenzen, dürfte für die „echte“ Wissenschaft schwer werden.