Leben wie im Kitschroman

In „Angel“ von Francois Ozon versucht eine Autorin so schwülstig zu leben, wie sie schreibt

Die guten Bücher sind selten auch die erfolgreichen! Wenn Literaten die Bestsellerlisten nur mit gerümpfter Nase ansehen, wenn kein Nobelpreisträger je so viele Bücher verkauft hat wie Rosamunde Pilcher, wenn Harry Potter zurzeit bekannter ist als Hamlet, dann bleibt ein Trost: In 50 Jahren wird J. K. Rowling vergessen sein, Gabriel Garcia Márquez aber nicht. Historische Fallbeispiele für diesen Mechanismus gibt es genug: Marie Corelli war etwa einst mit ihren Lore-Romanen viel berühmter als ihr Zeitgenosse Oscar Wilde. Sie galt als die Lieblingsautorin von Queen Victoria und wäre heute zurecht völlig vergessen, wenn sich eine spätere Kollegin nicht so über sie aufgeregt hätte. Elisabeth Taylor (nicht die Schauspielerin), eine scharfsinnige britische Schriftstellerin, nahm sich 1957 die Kitsch-Produzentin zum Modell für ihre boshafte Gesellschaftssatire „Angel“, in der sie vom Aufstieg und Fall Angel Deverells erzählt, die mit naiven Liebesgeschichten eine riesige Leserschaft betörte und dann versuchte, auch ihr wirkliches Leben so einzurichten wie einen ihrer Romane. Im Buch ist sie so negativ gezeichnet, dass man solch eine Person möglichst überhaupt nicht kennen lernen möchte. Es spricht für den guten Instinkt Francois Ozons, dass er dieses Manko der Vorlage erkannte und in seinem Film der Titelheldin zwar keine engelsgleichen Züge verlieh, sie aber so ambivalent zeichnet, dass wir, ähnlich wie bei Jane Austens „Emma“, von ihrer forschen Ahnungslosigkeit auch angerührt sind.

Als Tochter einer Ladenbesitzerin hasst Angel als Kind die Stumpfheit der englischen Provinz und träumt sich in bessere Verhältnisse hinein. Was beim Schulaufsatz von der Lehrerin noch streng als Flunkerei getadelt wird, trifft in Romanform genau den Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts. Mit ihrem schwülstigen Kitsch findet sie genau den Ton, der den Sehnsüchten vieler britischer Leserinnen entspricht. Problematisch ist nur, dass Angel so extrem in ihrer Fantasiewelt gefangen ist und keinen Schimmer davon hat, wie die Menschen wirklich sind. Eine Zeitlang kann sie es sich bequem in ihrer Scheinwelt einrichten, aber als sie sich dann in den erfolglosen Maler Esmé verliebt, ist ein schmerzhafter Zusammenstoß mit der realen Welt unvermeidbar.

Ozon hat in „Swimming Pool“ schon einmal von einer Schriftstellerin erzählt, die sich dem Widerspruch zwischen Fiktion und Realität stellen muss. In „Angel“ geht es nun auch um den Unterschied zwischen Kunst und literarischem Krempel. Dabei macht ja gerade die Beschränktheit von Angel ihren Erfolg aus, denn so wie sie träumten sich ja Millionen Frauen aus ihrem tristen Alltag in ein vornehmes Herrenhaus, schöne Kleider, teuren Schmuck und die Arme eines eleganten Gentlemans.

Der Franzose Ozon hat hier ein typisch britisches Kostümdrama inszeniert – in Englisch mit durchweg englischen Akteuren. Dabei schwelgt seine Kamera oft so hemmungslos wie die des großen Melodramatikers Douglas Sirk, und auch seine vermeintliche Idylle ist voller Widerhaken. Wenn man von der Titelheldin so fasziniert ist und sie manchmal in der gleichen Einstellung schnippisch und verletzlich, dumm und brillant, durchtrieben und verloren wirkt, dann ist dies der außergewöhnlichen Leistung von Romala Garai in ihrer ersten Hauptrolle geschuldet. „Angel“ ist ein wunderschön anzusehender, amüsanter und intelligenter Unterhaltungsfilm – aber wird man ihn auch in 50 Jahren noch sehen wollen? Diese Frage kann nur die Zeit beantworten.

Wilfried Hippen