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Archiv-Artikel

Auf der Lauer an der Mauer

taz-Sommerserie „Unbekannte Orte“ (Teil 13): die East Side Gallery. Millionen Touristen waren schon dran, Millionen Berliner noch nie. Eine der standhaften Ignorantinnen gibt nach. Für die taz begibt sie sich ins Grenzgebiet zwischen Friedrichshain und Kreuzberg und studiert Wandmalereien

UNBEKANNTE ORTE

Kennen Sie das? Alle Ihre Freunde aus Dortmund, Alpirsbach und Pirna waren schon auf der Reichstagskuppel, im Pergamonmuseum und am Wannseestrand – als Touristen. Und jedes Mal, wenn sie mit Ihnen sprechen, schwärmen die Freunde davon, wie eindrucksvoll das doch war. Und Sie? Trauen sich nicht zu verraten, dass Sie zwar jeden kleinen Händler im Bergmannkiez und jedes Café am Savignyplatz kennen, aber einige dieser Berlin-Highlights noch nicht mal aus der Ferne – obgleich Sie schon seit 14 Jahren in der Stadt leben. Macht nichts: Das geht vielen Berlinern so, sogar taz-Redakteuren.

Jetzt soll sich das aber ändern. In unserer Sommerserie besuchen tazler jene berühmten Orte, an denen sie noch nie waren. Heute: die East Side Gallery

VON REGINA FINSTERHÖLZL

Die East Side Gallery. Ein bedeutendes Dokument der Zeitgeschichte und zugleich die größte Open-Air-Galerie der Welt – zumindest laut der Website der Landesdenkmalliste. Also wieder ein Berliner Superlativ. Und ich war noch nie da. Peinlich. Hiesige Sehenswürdigkeiten habe ich eigentlich nur angeschaut, als ich noch Münchnerin war und Wahlberliner besuchte. Aber denen geht es ja ähnlich.

Jetzt stehe ich also an der Oberbaumbrücke, und vor mir beginnt sie, die Galerie. 1,3 Kilometer mit mehr als 100 Bildern liegen vor mir – was auf den ersten Blick sehr weit und sehr viel erscheint. Dazu ist es heiß. Die Sonne brennt, kein Schatten ist in Sicht. Und: Die Mauer verläuft entlang der Mühlenstraße, einer vielbefahrenen Verkehrsader, der Berufsverkehr ist laut. Die Luft stinkt penetrant nach Autoabgasen. Dieses Ambiente stellt keine erquickenden Mußestunden in Aussicht. Aber vielleicht ja bildende, motiviere ich mich selbst – und ziehe los.

Mir fällt auf, wie stark die Bilder verwittert sind. Das erste, ganz zu Beginn des Mauerstücks, kann ich gar nicht erkennen, die Farbe ist zu großen Teilen abgeblättert. Das zweite ist besser erhalten. Es zeigt eine einäugige Figur, die stark an Buddhastatuen erinnert. Das Bild trägt den Titel „Die sieben Stufen der Erleuchtung“. Doch Erleuchtung stellt sich bei mir auch nach längerem Betrachten des Bildes nicht ein. Der Stil erinnert mich ein bisschen an ausgemalte Mantras.

Die Bilder sind übersät mit Graffiti. Tausende Touristen haben ihre Namen oder Kommentare hinterlassen. „Interrail 07, Alberto, Ivan, Charly“. „De puta madre“ – geil – fand ein anderer Besucher die erleuchtete Figur. Neben mir kritzeln gerade zwei Mädels im Teenageralter ihren Namen dazu.

Ein Stück weiter entdecke ich ein Bild mit bunten Menschen, die gemeinsam die Ziegelsteine einer Mauer herunternehmen. Auf mich wirkt die Zeichnung wie einem Kinderbilderbuch entnommen. „Es gilt viele Mauern abzubauen“, ist darüber geschrieben. Apropos Mauern: Auch ein anderes Bild zeigt die Mauer vor blauem Hintergrund. Sie ist aufgebogen, und Menschen strömen durch sie hindurch – ein Exodus. Zieht das Volk in das Gelobte Land?

Auf einem anderen Bild sind auf blauen Untergrund viele niedliche, rote Abdrücke von Händen zu sehen. Auf wieder einem anderen Bild küssen sich Honecker und Gorbatschow. „Mein Gott hilf mir diese Liebe zu überwinden“, steht darüber. Nun ja, zumindest hier hat Gott mal zugehört.

EAST SIDE GALLERY

Das schreibt berlin.de: „Kurioserweise steht die einzig erhaltene Mauermalerei auf ehemaligem DDR-Boden. Während der Teilung konnte der Betonwall nur auf der Westseite koloriert werden. Das spontane Kunstwerk steht mittlerweile unter Denkmalschutz.“

Das schreibt der „Lonely Planet“: „Heute ist die East Side Gallery mit ihrem bunten Mix aus politischen Statements, surrealen Bildern und künstlerischen Visionen ein Symbol für geschichtliche Erneuerung. Die interessanteren Abschnitte liegen auf der Seite zum Ostbahnhof hin.“

Öffnungszeiten: Immer, auch bei Regen, Hitze, Verkehrschaos und Mondschein

Nächsten Dienstag: Waltraud Schwab über Nofretete

Auch bei meinem weiteren Weg an der Mauer entlang stellt sich kein Gefühl der Bereicherung ein. Im Gegenteil: Mit der Anzahl der betrachteten Bilder steigt auch meine Abneigung gegen den Malstil, in dem fast alle Bilder gehalten sind: bunt, gepinselt und irgendwo zwischen realistisch und abstrakt. Auch an einen historischen Ort fühle ich mich nicht versetzt. Eher wirkt dieser Mauerstreifen vergessen, übrig geblieben. Ein Gefühl für die Grenze, die diese Mauer einst darstellte, bekomme ich nicht.

Plötzlich hält neben mir ein Bus voller niederländischer Touristen, direkt an der Mauer. Ich schaue mich um und bemerke, dass ich genau vor dem berühmten Trabbi-durchbricht-die-Mauer-Bild-das-in-allen-Reiseführern-drin-ist stehe. Die Touristen steigen aus und beginnen, sich gegenseitig vor dem Bild zu fotografieren. Stand im Reiseführer, dass dieses Bild ein „Must-have-done“ der Sehenswürdigkeiten Berlins ist?

Auf dem Rückweg laufe ich dann die Rückseite der Galerie entlang, an der ehemaligen Westseite der Mauer am Ufer der Spree. Diese Seite ist dick mit Graffiti-Schriftzügen besprüht. Das erinnert mich daran, dass die Mauer, als sie noch ganz stand, auf der Westseite an vielen Stellen mit Spraydosen-Malerei übersät war, auf der Ostseite hingegen grau und unbemalt – man konnte ja nicht an die Mauer heran. Hier aber ist die Mauer auf beiden Seiten erst 1990 bepinselt und besprüht worden. Denn die eigentliche Grenze war die Spree, an deren Ufer ich entlanglaufe. Die Ruhe und der Geruch von Wasser ist nach dem Berufsverkehr eine Wohltat. Ich werde, denke ich mir, meinen Wahlberliner Freunden jetzt sagen, dass ich es zur East Side Gallery geschafft habe – und dass sie den Besuch getrost noch ein wenig verschieben können.

Regina Finsterhölzl lebt seit eineinhalb Jahren in Berlin