: Die Gefühle wegbomben
Als suchte man mit dem Hauptdarsteller nach seiner Geschichte: A. L. Kennedy schreibt in „Day“ über den Krieg – und wie man aus ihm nur schwer herausfindet
Solange Alfred Day keine Hoffnung hat, ist sein Leben in Ordnung. Sagt er. Allerdings kann man nicht behaupten, dass der 15-Jährige großartig an diesem Leben hängt. Als Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt, meldet sich Day freiwillig bei der Royal Air Force. Er lässt sich zum Schützen ausbilden und übernimmt den oberen Abwehrstand, damit er am besten gleich beim ersten Flug im Bomber abgeschossen wird.
In karger Sprache dokumentiert die Autorin A. L. Kennedy das unterentwickelte Gefühlsleben dieses Halbwüchsigen: den Hass auf den Vater und dessen stinkenden Fischladen, das Ersticktsein durch die Liebe der Mutter, die verzweifelte Sehnsucht nach der verheirateten Joyce und schließlich das Fasziniertsein von Krieg und Macht sowie seiner neuen Familie, der Crew der Lancaster. Man mag so eine Erzählung schon einmal gelesen haben. Doch Kennedy gelingt es mit ihrer fragmentierenden Erzählweise, sehr nah an das Innenleben ihres Jedermanns heranzukommen. Es scheint, als suche man gemeinsam mit Alfred Day nach seiner Geschichte und ihrem Sinn.
Auch wenn „Day“ ein Kriegsroman ist, wahrt er doch sehr viel Distanz zu Schlachten und Sterben. Der Wunsch nach dem „freien, weiten Blau“ hat Alfred zur Royal Air Force gebracht. Erst als ein glühender Luftstrom gegen ihre Lancaster schlägt und sie den „roten Tag“ sehen, den ihre Bomben in Hamburg verursacht haben, gewinnt er eine konkretere Vorstellung von dem, was ihre Flüge anrichten. Doch da ist er bereits im 26. Einsatz.
Kennedy ist weit entfernt davon, am britischen Nationalepos der guten Helden zu stricken. Die Handlung beginnt in einer Filmkulisse im Jahre 1949. Alfred Day, der das Ende des Krieges nicht verwinden kann, hat sich zusammen mit anderen „Kriegies“ in diese Lagersimulation geflüchtet, um ein weiteres Mal Statist in dem Projekt eines anderen zu spielen. Es ist eine bizarre Therapie, die sich die ehemaligen Kriegsgefangenen hier zumuten.
In Alfreds Bewusstsein ist der Krieg eine Geschichte geworden, die jeder erzählen kann, wie er will. Vielleicht um sie selbst zu verstehen, beginnt er damit, seiner eigene Version nachzuspüren. Die Bücher, die er als Kriegsgefangener gelesen hat, haben ihn zu etwas reifen lassen, was er noch nicht ist: „Jetzt also machst du dir gepflegte Sorgen, hast delikate Probleme, als wäre dein Kopf ein Salon […], und sie geben dir Wörter, die du nicht richtig bedienen kannst.“ Erst allmählich finden sich die Erinnerungen zu einer Geschichte zusammen.
In Kennedys Roman vermischen sich die Zeiten ebenso wie die Erzählperspektiven. Alfreds Geschichte ist unterbrochen durch Selbstreflexionen und Selbstgespräche, die zwischen einem „Du“ und einem „Ich“ unterscheiden. Das ihn betrachtende Ich ist streng, zuweilen ungeduldig mit seinem Subjekt. „Sieh dich bloß mal an – überall verdreckt –, dafür hätte man dir einen Streifen abgerissen“, rügt es Alfred als der, Jahre nach Kriegsende, seine Uniform nachlässig behandelt. Es betrachtet auch skeptisch, wie Alfred seine Erinnerungen bemüht. „Wenn du in deiner Vergangenheit rumstocherst, tust du weh, du wirst dich erinnern und dir wehtun. Aber du wolltest nicht hören.“
A. L. Kennedy hat sich viele Experimente vorgenommen: wechselnde Ebenen, wechselnde Perspektiven, wechselnden Zeitabfolgen. Das mag dem Gegenstand der Erzählung angemessen sein. Aber man muss sehr aufmerksam lesen, um den endlosen Brüchen folgen zu können. Manchmal gelingt es nicht.
Doch verzeiht man Kennedy das zeitweise Bemühte angesichts der großartigen Momentaufnahmen. Vor allem die Liebeszenen erzählt Kennedy mit der ihr eigenen nüchternen Eindringlichkeit: wie Alfred Joyce im Bunker kennen lernt, seine verwirrte Annäherung, seine Angst vor ihr. „Sie tut ihm weh. Sie ist der erste gute Schmerz.“ In diesen sehr nahen Betrachtungen gelingen Kennedy großartige Bilder. Wie auch die Gespräche mit Ivor, einem Buchhändler, bei dem Alfred nach dem Krieg unterkommt und der ihm seinen Höhenflug vorwirft: „Ich war nämlich am Boden und habe hinter Dreckskerlen wie dir aufgeräumt. Hast du mal Menschen getragen, die gerade schmelzen? – Die tropfen wie Kerzen, das läuft dir überallhin.“
„Day“ ist das Porträt eines zornigen Mannes. Der Antiheld aus der Arbeiterschicht weckt Erinnerungen an literarische Nachkriegsfiguren wie Jimmy Porter oder Lucky Jim. Doch Kennedy erlaubt ihrem Protagonisten, sich zu entwickeln. So viel sei verraten: Am Ende wählt Alfred Day die Hoffnung im Alltäglichen. Und die Unordnung.
JUDITH LUIG
A. L. Kennedy: „Day“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach, Berlin 2007, 348 Seiten, 22,90 €